Freies Kiffen bleibt in Deutschland mit Ausnahme eines streng regulierten Eigen- und Clubanbaus verboten. Und nach den Bundestagswahlen könnte der Versuch einer Entkriminalisierung der Droge weitere Rückschläge erleiden. Anders der Umgang mit Hanf zur medizinischen Anwendung. Medizinalcannabis darf seit 2017 etwa als Schmerzmittel eingesetzt und von Apotheken auf Rezept verkauft werden. Die Brüder Jakob und Benedikt Sons witterten damals die Chance und gründeten mit Cansativa eine Großhandelsplattform mit mittlerweile über 40 internationalen Lieferanten und mehr als 2500 Apotheken als Abnehmer. Der Großhandel mit den Blüten ist ein Geschäft mit hohen Wachstumsraten. Cansativa erzielt mit einem Umsatz von 35 Millionen Euro traumhafte Renditen. Der Weg dorthin ist für die Brüder eine Erfolgsgeschichte, allerdings eine mit Tiefen und deprimierenden Phasen.
München, 15. November 2024 - Von Rüdiger Köhn
Jakob und Benedikt Sons durchleben die ganz normalen Höhen und Tiefen eines Start-up-Daseins. Sie haben zum genau richtigen Zeitpunkt das genau richtige Gespür gehabt, verbunden mit dem Talent, in Sekunden von Null auf Hundert zu beschleunigen. Schon im ersten vollen Jahr nach der Gründung von Cansativa im Frühjahr 2017 haben die beiden mit zwei Werkstudenten 2018 mit dem Vertrieb von Medizinalcannabis an Apotheken eine halbe Million Euro Umsatz erzielt - und schon richtig gut verdient. In diesem Jahr - sieben Jahre nach Gründung - dürfte der Umsatz mit über 50 Mitarbeitern mindestens 35 Millionen Euro oder das siebzigfache erklimmen, Tendenz weiter stark steigend, womit sich das Start-up als Marktführer für Medizinalcannabis unter zahlreichen, ebenso jungen Anbietern in Deutschland sieht. Und das alles zu Nettorenditen, die „exorbitant“ zweistellig und so hoch sind, dass die Gründer nicht darüber sprechen.
Benedikt (links) und Jakob Sons Fotos Cansativa
Doch liegen Auf und Abs dicht beieinander, wobei die Sons-Bürder in schlechteren Zeiten alle Register von Start-up-Eigenschaften ziehen mussten, um auf Umstände zu reagieren, die sie selbst nicht beeinflussen konnten: Agilität, Flexibilität, Schnelligkeit. So stand Cansativa schon im Jahr 2020 vor dem Kollaps, weil die Pandemie den Erfolg ihrer Geschäftsidee mit rasantem Wachstum jäh stoppte. Mitten im Aufbau der kapitalmäßig noch schwach ausgestatteten Cansativa reichte das Geld nur noch für wenige Wochen. Gerade erst sollte die Skalierung Fahrt aufnehmen, waren der Standort in Mörfelden bei Frankfurt eröffnet und neue Mitarbeiter eingestellt worden. Investorengeld lag jedoch in der Corona-Zeit plötzlich nicht mehr auf der Straße.
Kurskorrektur, die Erste. Die Brüder mussten das Liquiditätsproblem lösen und bauten binnen kürzester Zeit eine professionelle Großhandelsplattform für Medizinalcannabis auf, für die sie einerseits weltumspannend Lieferanten akquirierten; heute sind es über 40. Bis dahin importierte Cansativa das Cannabis kilogrammweise aus staatlich kontrollierten Anbau in den Niederlanden selber. Als Großhändler konnten sie nun einen wesentlich größeren Kreis mit medizinisch und therapeutisch einzusetzenden Cannabis für Patienten beliefern; heute gehören mehr als 2500 Apotheken zu den Kunden.
Mit der schnellen Reaktion und den dadurch ausgelösten Umsatzschüben gelang die Rückkehr auf die Erfolgsspur. Geholfen hat auch, dass Cansativa im August 2020 den Zuschlag vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erhalten hat, als einziges Unternehmen Medizinalcannabis aus deutschem Anbau zu vertreiben. Das mag vom Volumen nicht ins Kontor schlagen, aber es ist eine äußerst wichtige Referenz, erhöht die Relevanz und Reputation - eine Visitenkarte. „Aus der Situation der maximalen Bedrängnis heraus haben wir alle Hebel in Bewegung gesetzt und Lieferanten überzeugt, uns weiter zu beliefern“, erinnert sich Jakob Sons, 34 Jahre, von Beruf eigentlich Jurist.
Dann die nächste Herausforderung: „Als wir im Jahr 2017 die Idee hatten und loslegten, waren wir nicht davon ausgegangen, dass es in Deutschland einen vollliberalisierten Markt für Cannabis geben könnte, das war nicht Teil des Plans.“ Genau das zeichnete sich Ende 2021 jedoch ab, als die neue Ampel-Koalition den Beschluss fasste, den Markt für Genusscannabis zu öffnen, damit die Droge zu entkriminalisieren und Kiffen für jeden möglich zu machen. Eine eine große Chance tat sich auf.
„Wie in der Start-up-Branche üblich, sind wir anpassungsfähig und haben uns darauf eingestellt“, sagt Jakob Sons wie selbstverständlich, zumal drei Jahre nach dem Start Strukturen für einen Großhandel auch in diesem Geschäft zügig aufgebaut werden konnten und Cansativa einen Vorsprung gegenüber etwaigen neu auftretenden Anbietern hatte. Das Start-up schuf mit hohen Investitionen in die Belegschaft und in einen B2B-Marktplatz die erforderlichen Strukturen für einen schnellen Start. Doch wenige Monate später war die Freigabe mit dem Potential eines „Multi-Milliardenmarktes“ perdu. Denn das im Sommer 2022 veröffentlichte Eckpunktepapier der Regierung war eher der Abgesang auf die Vollliberalisierung; lediglich der streng regulierte Eigen- und Clubanbau von Hanf in überschaubaren Mengen ist erlaubt worden.
Kurskorrektur, die Zweite. Die Kehrtwende ist für Jakob und Benedikt Sons eine Lehrstunde gewesen. „Wir haben daraus die Erkenntnis mitgenommen, dass man sich sicherlich über regulatorische Rahmen ärgern mag“, sagt Jakob. „Oder aber man macht das Beste daraus.“ Und er präzisiert: „Wir machen das Beste aus dem, was wir sicher planen können und gehen keine unvernünftigen Wetten auf die Zukunft ein.“ Will heißen: Fokus auf medizinische Anwendungen. Gegenüber den Apotheken positioniert sich Cansativa als „One-Stop-Shop“ - als zentrale Anlaufstelle für ein zuverlässiges und sicheres Produkt für Patienten. Das Unternehmen importiert die Ware, lagert sie, verkauft sie an Apotheken, übernimmt die Logistik und betreibt Aufklärung. Dadurch würden Prozesse weniger komplex, die Wege der Beschaffung einfacher, die Verfügbarkeit schneller sowie die Lieferfähigkeit gesichert.
Die Rückbesinnung auf die Wurzeln kam Cansativa teuer zu stehen. Allein der Aufbau eines B2B-Marktplatzes für Konsumcannabis kostete eine halbe Million Euro. In nur wenigen Monaten verfünffachte sich die Zahl der Mitarbeiter von zwölf auf 60 Beschäftigte. Die Vollbremsung bedeutete ein Stellenabbau um ein Drittel auf 40 Stellen; inzwischen sind es wieder fünfzig. All das steckt den Gründern heute noch in den Knochen. „Den Turnaround haben wir nur mit der absoluten und schnellen Refokussierung in einem deprimierenden Moment geschafft“, erinnert sich Benedikt Sons, 36 Jahre und Wirtschaftsingenieur. „Daraus haben wir Kraft gezogen, um wieder zum alten Wachstumspfad zurückzukehren.“
Mit der Wette auf einen liberalisierten Markt hat Cansativa rund fünf Millionen Euro bis Herbst 2022 verbrannt. Das Start-up befand sich, anders als 2020, dieses Mal jedoch in besserer Verfassung mit einer soliden Kapitalausstattung. Erst Anfang 2022 hatte es, nicht zuletzt mit Blick auf die antizipierte Liberalisierung, eine Serie-B-Finanzierung gegeben, die 13 Millionen Euro einbrachte. Bis dato summierten sich die eingesammelten Gelder so auf 20 Millionen Euro. An der Serie B beteiligten sich der amerikanische VC-Investor Argonautic Ventures, der schwerpunktmäßig eigentlich in Deeptech-Unternehmen engagiert ist; mit dabei auch das Münchner Family Office Alluti des Unternehmers und Investors Bert Bleicher.
Casa Verde Capital aus Los Angeles ist ebenso von der Partie, ein 2015 entstandener Venture Fonds, der seinen Anlagefokus auf die Cannabis-Industrie richtet. Mitinitiiert und mitgegründet worden ist Casa Verde von Snoop Dog. Wobei: Jakob und Benedikt Sons hatten nicht die Ehre, mit dem US-Rapper gesprochen zu haben. Casa Verde ist an rund 20 Cannabis-Unternehmen beteiligt und hatte einige Monate zuvor in das Berliner Start-up Sanity Group investiert. Das Engagement bei Cansativa sei jedoch das bis dahin größte in Europa gewesen, sagt Benedikt Sons.
Eine unangenehme Situation für die Brüder war es schon, wenige Monate nach Abschluss der Runde gegenüber den Investoren einzugestehen, dass ein Teil der eingebrachten Finanzmittel runtergespült war. Doch die Geldgeber honorierten das schnelle, wenn auch schmerzhafte Gegenrudern, was zum zügigen Turnaround führte. Deren Glaube an den lukrativen Wachstumsmarkt ist ohnedies standhaft.
Das Umfeld im Umgang mit Politik, staatlichen Regulierungen, behördlichen Aufsichten und mit der Krake eines überbordend bürokratischen, komplexen Gesundheitssystems ist alles andere als einfach. Allein das Gründungsjahr 2017 war erforderlich, um alle nötigen Zulassungen zu erhalten, bis die Brüder schließlich 2018 operativ starten konnten. Jakob Sons sieht in diesem komplizierten Ökosystem auch einen Vorteil: Die Eintrittsbarrieren für neue Marktteilnehmer sind hoch.
Der Zwei-Mann-Betrieb holte sich im Rahmen eines Friends-and-Family-Programms zum Start eine Anschub-Finanzierung von 25.000 Euro. Die ersten Bestellungen deuteten schon an, dass sich da ein interessantes Geschäft auftut. Doch manchmal fiel es schwer, es aufzubauen. Zu jener Zeit waren Vorbehalte groß, die Kenntnisse über den Medizinalcannabis-Markt noch gering. Das bekamen die Gründer immer wieder zu spüren, angefangen bei der Kontoeröffnung über das Anschaffen der notwendigen Betriebsausstattung bis hin zum Abschluss erforderlicher Versicherungen.
Die Initialzündung für Cansativa klingt nach einem Start-up-Klassiker; nicht der Küchentisch muss herhalten, sondern die Familienfeier und eine Serviette. Als Rechtsanwalt bei der Frankfurter Kanzlei Metis erstellte Jakob Sons Ende 2016 ein Gutachten für ein Unternehmen, das das Wort Cannabis im Namen tragen wollte. Er stieß auf den Gesetzesentwurf über die medizinische Nutzbarkeit von Hanf, das in den Bundestag eingebracht worden war und im Frühjahr 2017 in Kraft treten sollte. Jakob erzählte auf einer Familienfeier kurz vor Ostern des Jahres seinem Bruder und seinem Vater von seiner Idee, daraus ein Geschäftsmodell zu machen. Den ganzen Abend diskutierten sie, noch in der Nacht skizzierten ein grobes Konzept auf eine Serviette, wie man die Freigabe von Medizinalcannabis „monetarisieren“ kann.
„Wir beide hatten seit jeher den Traum, zusammen etwas Eigenes auf die Beine zu stellen“, sagt Benedikt Sons. „Uns beide treiben Leidenschaft und Begeisterung für etwas an.“ Jakob ist durch die Gutachterarbeit bestens in die Thematik, auch regulatorisch, eingearbeitet gewesen. Benedikt als Stratege hat einen Reiz darin gesehen, einen Markt zu erschließen, den es noch nicht gegeben hat. Am Karlsruher Institut für Technologie studierte er Wirtschaftsingenieurwesen (Master) und ist in großen Konzernen als Strategieberater tätig gewesen, zunächst bei Bayer im Business Consulting, dann bei Volkswagen, unter anderem in China. Zur richtigen Familiengeschichte wird es, wenn Vater Hermann Sons, 76 Jahre, ins Spiel kommt. Als Herzchirurg brachte er in der Gründerzeit wichtige medizinische Expertise ein.
Nach einer halben Million Euro Umsatz 2018 vervierfachte sich dieser ein Jahr später - immer noch im Kleinstbetrieb - auf zwei Millionen Euro. „Das war für uns ein klarer Indikator dafür, dass da was geht“, lacht Benedikt Sons. Apotheken wurden zu der Zeit noch per Kaltakquise am Telefon als Kunden gewonnen.
Auf dem langen Weg zur Enstigmatisierung, der Etablierung und der Akzeptanz von Cannabis in Deutschland strebt Cansativa neben dem Ausbau des Großhandels auch die Erweiterung des Portfolio mit Eigenmarken an, mit dem Ende 2022 gestartet wurde. Mit neuen, selbst entwickelten Derivaten und Rezepturen soll das Angebot für bestimmte Anwendungsfälle erweitert werden, für die es bislang keine Mittel gegeben hat. Außerdem will das sich etablierende Unternehmen den Export etwa nach Großbritannien und Polen aufbauen. Heute kommen lediglich 5 Prozent des Umsatzes aus dem Ausland.
Die Freigabe von Genusscannabis, dessen Schwarzmarkt in Deutschland auf 4 bis 8 Milliarden Euro geschätzt wird, bleibt indes vorerst ein Traum. Deutschland ist damit im internationalen Vergleich etwa mit Blick auf Kanada oder anderen europäischen Nachbarn offenbar noch nicht reif dafür. Die Sons-Brüder sind überzeugt, dass irgendwann die Vollliberalisierung kommen wird, wissen aber auch nur zu gut, dass sie sich noch lange in Geduld werden üben müssen.
Groll über den unerwarteten, folgenreichen Schwenk der Koalition vor über zwei Jahren empfindet Jakob Sons nicht: „Was sich über das Kerngeschäft hinaus an Chancen ergeben kann, evaluieren wir; gibt es eine reale Chance, nutzen wir sie.“ Von der Mentalität, auf etwas zu schimpfen, hält er nichts. „Die Vollliberalisierung wäre ein ungeahntes Geschenk gewesen, doch über ausbleibende ungeahnte Geschenke muss man sich nicht ärgern.“