Walter Ballheimer, Christian Lindener und Alexander Genzel sorgen für einen Paradigmenwechsel im Orbit. Die Raumfahrt- und Start-Up-Experten haben ein New-Space-Unternehmen gegründet, das günstig und vor allem schnell Satelliten-Plattformen für unterschiedliche Anwendungen in der Erdumlaufahn bauen will. Wofür Classic-Space-Konzerne à la Airbus, OHB oder Lockheed Martin vier Jahre und länger benötigen, will Reflex Aerospace das in neun Monaten schaffen. Da wird ein Satellit - fast wie ein Konsumgut - ziemlich schnelllebig und beendet seine Mission schon nach wenigen Jahren, um Platz für neue Trabanten technologisch State of the Art zu machen.
24. Juni 2022 - Von Rüdiger Köhn, München
Drei Monate Entwicklung, drei Monate Herstellung, drei Monate Tests, Qualitätschecks und schließlich Auslieferung an den Kunden. Es geht hier nicht etwa um eine x-beliebige Maschine oder Anlage, die auf Kundenwunsch hergestellt wird. Was Reflex Aerospace entwickelt, ist ein Satellit, der für Kommunikation, Navigation, Klimabeobachtung, Fernerkundung oder Aufklärung eingesetzt werden kann. Das New-Space-Startup schickt sich an, die tradierten Spielregeln in der Raumfahrt umzuschreiben. „Wir verkürzen die Entwurfs- und Bauzeit von vier Jahren auf neun Monate“, sagt Gründer und Vorstandschef Walter Ballheimer.
Das erst im Mai 2021 gegründete Unternehmen aus Berlin und München mit heute knapp 30 Mitarbeitern entwirft eine kostengünstige Satellitenplattform, die in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit schnell Kunden zur Verfügung steht; in der überschaubaren Dimension eines großen Kühlschranks, 250 bis 500 Kilogramm schwer, ausgespuckt aus dem 3D-Drucker. Hinter diesem Konzept steht der Gedanke, dass die Trabanten schneller als bisher ersetzt werden müssen, um immer technologisch State of the Art zu sein. Dabei ist Vorsorge getragen, dass der Weltraum mit diesen - salopp ausgedrückt - Speed-Satelliten nicht zugemüllt wird.
Experten-Trio: Alexander Genzel, Walter Ballheimer, Christian Lindener (v.l) Fotos Refelex Aerospace
Dass das keine Utopie ist, beweist der Luft- und Raumfahrtexperte Ballheimer, 37 Jahre, mit dem Aufbau eines hochkarätigen Teams aus der Branche. Erst vor wenigen Wochen ist Christian Lindener, 39 Jahre, als Co-Gründer eingestiegen, der sich als Venture-Capital-Spezialist um die Finanzierung kümmert. Er kommt von Airbus, wo er unter anderem zuständig für Innovationen und Company Building gewesen ist. „Das Potential des globalen Space-Marktes wird sich bis 2040 auf über eine Billion Dollar pro Jahr verdreifachen“, sagte Lindener, als er zu Reflex Aerospace gekommen ist. „Wer da mitspielen will, braucht heute vor allem eines: Tempo, Tempo, Tempo; und da bin ich mit dem Team von Reflex Aerospace an der allerersten Adresse.“
Zu dem gehört seit diesen Tagen als Co-Founder nun offiziell auch Alexander Genzel. Angesichts seines Alters von nur 23 Jahren gehört er für das Metier einer anderen, jüngeren Generation an. Ballheimer kennt ihn länger. Genzel ist seit Anfang an als Co-Gründer dabei, hat Ballheimer vor allem als Ratgeber zur Seite gestanden. Genzel hat als Offizier bei der Hochschule der Bundeswehr in München sowie in Denver Luft- und Raumfahrttechnik studiert und befasst sich mit neuen Satellitentechnologien nicht nur für die zivile, sondern auch für die militärische Nutzung (Dual Use). Daher wird er das Produktportfolio für hoheitliche, staatliche Aufgaben erheblich erweitern können. Jetzt ist er endgültig zu Reflex Aerospace zugestoßen. Damit nicht genug: Ballheimer kündigt weitere Experten mit Format an, die in den nächsten Wochen und Monaten sein Team bereichern wollen. Mit dem „Trio Orbitale" steht nun die Kernmannschaft.
Simulation der Reflex-Aerospace-Plattform
Sie hat sich ehrgeizige Ziele vorgenommen - und legt ein für Branchenverhältnisse atemberaubendes Tempo vor. Eine offenbar reizvolle Herausforderung. Dieses und nächstes Jahr erfolgt der Hochlauf mit dem Aufbau der Produktionsstrukturen und einer Fertigung voraussichtlich in Ottobrunn, einem Raumfahrt-Cluster südlich von München. Schon Ende 2023, Anfang 2024, also keine drei Jahre nach Gründung, soll der erste Pilot-Trabant ins All geschossen werden; die „Demo-Mission“, wie Ballheimer sagt. Wenige Monate später könnte der erste Satellit kommerziell starten. Im eingeschwungenen Zustand will Reflex Aerospace schätzungsweise ab 2027 zwischen 40 und 70 Satelliten im Jahr herstellen.
Ballheimer grenzt sein Start-Up mit deutlichen Worten zu Classic-Space-Betreibern wie Airbus, OHB, Lockheed Martin oder Boeing ab, die aufwendig über viele Jahre Satelliten entwickeln und bauen. Die müssten sich durch eine entsprechend lange Nutzlast-Dauer rentieren. Die Strukturen der etablierten Konzerne seien zentralisiert und bürokratisch organisiert. Die dynamischen technologischen Sprünge ließen es mittlerweile jedoch nicht mehr zu, dass herkömmliche Satelliten in vielen Jahren entwickelt und dann noch länger ihre Arbeit im Orbit verrichten müssten. „Die Preise für Raketenstarts sind nicht zuletzt dank Space X von Elon Musk signifikant gesunken“, sagt Ballheimer. „Statt Satelliten über lange Zeiträume zu betreiben, ergibt es daher oft mehr Sinn, sie regelmäßig zu ersetzen, um neuen technologischen Entwicklungen und Ansprüchen gerecht zu werden."
Diese Notwendigkeit hätten die großen Hersteller noch nicht erkannt. „Sie bauen nach wie vor superzuverlässige, 15 Jahre funktionierende Hardware für sehr viel Geld; das kostet Zeit für die Entwicklung von Produkten mit Nutzlasten, die dann beim Einsatz bereits überaltert sind.“ Der Reflex-Aerospace-Gründer zieht einen auf den ersten Blick bizarr anmutenden Vergleich: „Der Markt wird sehr viel dynamischer werden und einen Paradigmenwechsel erleben; überspitzt gesagt, wird er sich den Verhältnissen der Consumer Electronic nähern, in dem es schnelllebig zugeht und Produkte immer wieder ausgewechselt oder gar weiter verkauft werden.“
Somit ändern sich für Balheimer zwangsläufig die Missionszenarien. „Da wird dann auch mal ein Satellit nach vier oder fünf Jahren ersetzt." Dafür entwickele Reflex Aerospace eine Plattform für die unterschiedlichsten Anwendungen. Es sollen leistungsstarke und auf individuelle Anforderungen der Kunden zugeschnittene Satelliten in Rekordzeit hergestellt werden. Ballheimer ist mit seinen Partnern überzeugt: „Man kann das Geschäft in der Raumfahrt sehr viel agiler machen.“ Eine Plattform-Strategie jedenfalls, wie er sie plant, habe es so bislang nicht gegeben.
Zunächst geht es darum, per 3D-Druck den Satellitenrahmen flexibel und dem individuellem Bedarf angepasst herzustellen, der die Basis für die Nutzlast ist. Nicht die Herstellung der Plattform sei teuer, auch wenn 3D-Druck alles andere als billig sei, sagt Ballheimer. Es müsse auch nicht allzu viel bei der Hardware gespart werden. „Eingespart werden vor allem die enormen Ingenieurleistungen, die ausschließlich für eine Mission oder für ein Projekt über Jahre anfallen; das Non-Recurring Engineering." Das sind für ihn die Kostentreiber, womit er auf die Arbeitsweisen der Classic-Space-Unternehmen anspielt. So kommen vier Jahre Entwicklungsarbeit mit tausenden Ingenieursstunden zusammen. Mit notwendigen Anpassungen, die durch zwischenzeitliche technologischen Innovationen erforderlich werden können, dauere die Fertigstellung durch etablierte Anbieter wegen ihrer Strukturen noch länger.
Reflex Aerospace beschleunigt die Prozesse durch „algorithmisches Engineering“, das flexible, individuelle und schnelle Konstruktionen ermöglicht. Der durch Künstliche Intelligenz gestützte Algorithmus errechne und kalkuliere eine Plattform, die alle Anforderungen für den Satelliten erfülle. Im 3D-Druck wird sie gefertigt, was viel kostet. Wegen des Wegfalls teurer Ingenieurstunden bleibe die Plattform summa summarum erheblich günstiger, ohne dass an der Qualität Abstriche gemacht werden müssen.
Zum Geschäftsmodell gehört auch, dass sich der Satellit mit deutlich verkürzter Nutzungs- und Lebensdauer von selbst entsorgt, um so nicht das ohnehin große Gefahren- und Kollisionspotential durch Weltraumschrott zu erhöhen.
Der Satellit wird so programmiert sein, dass er nach Ende der Mission automatisch in die Erdatmosphäre gezogen wird und verglüht. Eine Art Timer an Bord ist geplant, der immer wieder - zum Beispiel regelmäßig alle sechs Monate - resettet werden muss. Kommt der Reset nicht, wird das Einfliegen in die Atmosphäre eingeleitet. Dazu wird das Konstrukt mit einem Segel ausgestattet sein, das ausfährt, um die Reibung zu erhöhen und das vollständige Verglühen ermöglicht.
Paradigmenwechsel auch hier. Ballheimer spricht von einem Dilemma. Verglühen solle der Trabant, solange er funktioniere. Ein Betreiber jedoch, der schließlich mit der Nutzlast - sei es Kommunikation oder Navigation - Geld verdient, wird sie maximal einsetzen; so lange, bis der Trabant nicht mehr funktioniert. Dann kann er nicht mehr kontrolliert abstürzen und wird zum gefährlichen Geschoss im All.
Geballte Raumfahrt- und Start-Up-Expertise
Walter Ballheimer wie auch Christian Lindener sind keine Träumer oder Fantasten. Sie sind in der Raumfahrtbranche und der Gründerszene bestens bekannt. Seit jeher hat Ballheimer das Weltall fasziniert, hat an der TU Berlin Luft- und Raumfahrttechnik studiert und wollte auch in dem Bereich promovieren. Da er an einem bestimmten Satellitenprojekt forschte, sich dieses aber immer weiter hinauszögerte, stoppte er die Promotion. Im Herbst 2014 gründete er mit einem Partner die German Orbital Systems und war deren Geschäftsführer. Das Unternehmen ist kommerzieller Hersteller von Cube-Satelliten in der Größe eines Schuhkartons, die günstig und massenweise in den Orbit geschossen werden können. Parallel hat er als technischer Leiter auch die Schwestergesellschaft Exolaunch geführt, an der er jedoch nicht beteiligt war. Exolaunch ist ein Dienstleister, der Transportmöglichkeiten für viele Kleintrabanten in einer Fluggemeinschaft in Raketen organisiert. Nach sechseinhalb Jahren entschloss sich Ballheimer, auszusteigen und Reflex Aerospace zu gründen. Er ist überzeugt, dass das Massengeschäft mit Cube-Satelliten über kurz oder lang harten Preiskämpfen ausgesetzt sein wird. Er zieht es vor, komplexere, größere und kundenspezifische Satelliten zu entwickeln, mit denen das Geschäft attraktiver ist, die Erfolgsaussichten günstiger sind.
Genzel, Lindener, Ballheimer
Christian Lindener ist nicht nur in der Raumfahrt vernetzt, sondern gehört auch zu den in Europa bekanntesten Experten für Tech-Startups. Geboren in Brasilien, wuchs er in Mexiko auf und ging dort zur Schule, studierte in den USA, in Spanien und schloss an der Universität Innsbruck das Studium für International Business Administration an Economics mit dem Master of Arts ab. Er ist am Aufbau von zahlreichen Förderprogrammen und an der Etablierung von mehr als 50 Tech-Startups aus der Schweiz, Österreich und Deutschland beteiligt gewesen. Für die von Telefonica betriebene Risikokapitalgesellschaft Wayra Germany bereitete er junge Technologiefirmen auf die Integration in das Unternehmensportfolio des spanischen Telekom-Konzerns vor. Von 2019 an arbeitete Lindener bei Airbus. Er leitete dort bis zuletzt als Chef von Airbus Scale das konzerneigene Innovationsmanagement und steuerte das externe Firmengründungsprogramm .
Der Dritte im Trio, Alexander Genzel, hat einen anderen Weg beschritten. An der Universität der Bundeswehr in München studierte er Luft- und Raumfahrttechnik, nachdem er als Truppenoffizier der Marine in die Bundeswehr eingetreten war. Erst vergangenes Jahr machte er den Abschluss. Seit 2019 hat er als Projektleiter am Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr (dtec) am Projekt ARMADA.space gearbeitet, das Technologien für satellitengestützte Aufklärung im maritimen Umfeld entwickelt. Die reichen von der zivilen Nutzung wie Gefahrenerkennung im Meer, Umweltschutz oder Kampf gegen illegale Fischerei bis hin zur Erforschung von sicherheitsrelevanten Anwendungen in maritimen Operationen. Den deutlich jüngeren Genzel hat Ballheimer im Zuge eines Projektes bei German Orbital Systems vor einigen Jahren kennengelernt; lange vor Lindener. Der Kontakt intensivierte sich. Der noch Studierende Genzel hat nach der Gründung Ballheimer bereits als Co-Founder unterstützt. Dass Genzel nun dabei ist, scheint daher nicht nur konsequent, sondern hat einen besonderen Charme: Er öffnet die zu entwickelnde Plattform damit auch für Aufträge staatlicher und öffentlicher Kunden.
Den neuen Partner Christian Lindener hingegen hat Ballheimer erst durch Bülent Altan kennengelernt. Altan ist Vorstandsvorsitzender von Mynaric aus Gilching bei München; ein Spezialunternehmen für Laserkommunikation aus dem All. Der CEO ist Raumfahrtexperte in Reinkultur, da er zum Gründer- und Kernteam für die Entwicklung der SpaceX-Raketen von Elon Musk gehörte, gewissermaßen Vater der Falcon9- und Dragon-Rakete ist (siehe auch: Bülent Altan: Rocket Man vom 19. April 2021 https://www.passion4tech.de/blog/bulent-altan-rocket-man). Er gehörte über seinen Venture-Capital-Fonds Alpine Space Venture zu den ersten Investoren von Reflex Aerospace. Er beteiligte sich an der Pre-Seed-Runde vergangenes Jahr. Derzeit läuft die eigentliche Seed-Runde, die Ende Juli nach Möglichkeit abgeschlossen werden soll. Der dann generierte Gesamtbetrag dürfte zumindest für den Raumfahrtbereich rekordverdächtig sein.
Erstinvestor von Isar Aerospace und Reflex Aerospace, Mynaric-CEO: Bülent Altan Foto Rüdiger Köhn
Bülent Altan ist seit jeher als Venture Capitalist sehr aktiv in der Gründerszene gewesen. Er war 2018 einer der ersten Investoren des Raketenbauers Isar Aerospace aus München und ist dort Verwaltungsratsvorsitzender. Mittlerweile ausgestiegen ist er aus der Risikokapitalgesellschaft TechFounders, einer Gruppe von Einzelinvestoren in Luft- und Raumfahrt-Start-Ups. Unter den Mitgliedern dort fand sich der Airbus-Manager Lindener. Man kennt sich bestens. Altan knüpfte die Bande zu Ballheimer.
Das Netzwerk in der New-Space-Szene ist eng. Und es treibt nicht zuletzt dank Altan weitere Blüten mit der engen Zusammenarbeit junger Unternehmen in der agilen Raumfahrt. Isar Aerospace, Mynaric und Reflex Aerospace haben federführend vor einem halben Jahr das Konsortium UN:IO zusammengestellt, dem auch andere kleine, junge Unternehmen angehören. Die Gruppe bewirbt sich für den von der EU geplanten Aufbau einer unabhängigen europäischen Kommunikationsinfrastruktur für das Breitband-Internet im Weltraum, das eine Konstellation von 400 Satelliten vorsieht. Nach der ersten Ausschreibung sind UN:IO sowie ein weiteres Konsortium beauftragt worden, in einer Machbarkeitsstudie jeweils ein technisches Konzept für die Architektur zu entwickeln und vorzulegen. Die junge Wilden legen sich da mit der geballten Übermacht aus der Raumfahrt an: Zum konkurrierenden Konsortium gehören Airbus, Arianespace, Eutelsat, Hispasat, OHB, Orange, SES, Telespazio und Thales Alenia Space.
Dabei ist jedoch die Arbeitsteilung im New Space von noch größerer Bedeutung als im Classic Space. Da geht es nicht nur um das Finanzielle. Zwangsläufig müssen die jungen Unternehmen Erfahrungen sammeln, aber auch ihre speziellen, da nur in kleinen Formationen entwickelten Technologien zum Großen und Ganzen bündeln, um so ihre Stärken zu nutzen. „Classic Space, New Space - beide haben Schwächen und Stärken“, sagt Walter Ballheimer. Die etablierten Anbieter seien kommerziell gut aufgestellt und sprächen breite Anwendergruppen an. „Was Agilität und Innovationen angehen, sind die Neuen eindeutig fitter und können mit Blick auf den Kostendruck schneller agieren.“ Allerdings müssten manche In der Professionalisierung noch dazu lernen. Fernab der eigenen Vision seiner Reflex Aerospace, wagt Ballheimer eine andere visionäre Aussage: „Classic Space und New Space werden sich annähern, ergänzen und gar zusammenfügen - es entsteht ein Next Space.“