Timothy Mende ist Arzt. Als das iPhone 2007 den Durchbruch schaffte, dachte er schon daran, träge und unkoordinierte Abläufe im Krankenhaus mit moderner Technik fit zu machen. Doch es war noch zu früh. Er ging zur Unternehmensberatung Boston Consulting Group. Als Arzt mit Management-Kenntnissen war er 2015 soweit, Kumi Health zu gründen. Sie bietet eine digitale Plattform an, um die Prozesse in der Klinik zu standardisieren, vor allem effizient zu machen. Eine Herausforderung: Denn Digitalisierung ist dort ein Fremdwort. Noch.
4. September 2021
Die Unzufriedenheit von Timothy Mende hat sich aufgestaut, seit der Mediziner im Krankenhaus arbeitet. Zu kompliziert, zu langsam läuft für ihn alles ab; es fehlt eine durchgehende transparente Prozesskette, damit der Patient im Notfall effektiv und wirksam behandelt werden kann.
Daran hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert, scheinen digitale Kommunikationswege irgendwie aus einer fernen Welt zu stammen. Telefon, Faxgerät, Zettel, Stift, Flurfunk und Leitz-Ordner sind die vorherrschenden Dialoginstrumente in Krankenhäusern. Die bilden immer noch die Grundlage für die Standard Operating Procedures (SOP), dem standardisierten Behandlungspfad. Er regelt den Klinikalltag. Die Einlieferung eines Patienten setzt eine Welle von Prozessen in Bewegung: von der Aufnahme, über die Untersuchung bis hin zu Behandlung und Nachsorge.
Wenn es hochkommt, verständigen sich Ärzte und Pflegekräfte heutzutage über WhatsApp. Mende nennt das dann „unstrukturierte Kommunikation“. Denn eine Antwort oder Reaktion kommt mitunter erheblich verzögert. „Die Realität im Krankenhaus sieht oft anders aus, als man es sich draußen wünscht und vorstellt“, sagt Mende, Gründer und Geschäftsführer von Kumi Health. Er hat eine digitale Plattform für Krankenhäuser entwickelt, die die abteilungs- und stationsübergreifende Zusammenarbeit des klinischen Personals steuern soll und den aktuellen Informationsstand über einen Patienten in Echtzeit vermittelt.
Timothy Mende Foto Kumi
Mende, 43 Jahre, hat zur Genüge erleben müssen, dass der Begriff „Digitalisierung“ im Gesundheits- und insbesondere im Krankenhauswesen ein Fremdwort ist. Er bevorzugt es, die Missstände vorsichtig zu formulieren. Denn er muss schließlich auch umsichtig mit einer potentiellen Kundschaft des 2015 in Hamburg gegründeten Start-Ups sein. „In der Kommunikation mangelt es leider oft an strukturierter Information", fängt er zunächst in gewählten Worten an. Das sagt jemand, der weiß, dass es mit dem Einliefern eines Patienten auch um akute Notfälle gehen kann. „Die Zeiten müssen vorbei sein, dass Standards in Ordnern abgelegt werden, die aus dem Regal gezogen werden“, spielt er auf eine gängige Praxis an. „Wir befinden uns in einer Welt, in der immer noch das Fax-Gerät eine Rolle spielt.“ Ein eigentlich unzumutbarer Umstand. Schließlich nehmen seine Aussagen doch an Schärfe zu: „Es sterben Menschen in Krankenhäusern, weil die Kommunikation unzulänglich ist.“ Dabei sei für einen Patienten das Gefühl entscheidend, dass die Ãrzte alles im Griff hätten. „Das ist eine Vertrauensfrage.“
Es hat sich etwas aufgestaut in dem Mediziner, der als passionierter Hockey-Spieler Sportarzt werden wollte. Ob er sich Frust von der Seele reden wolle? „Ich bin nicht frustriert“, erwidert er. „Ich bin getrieben von meiner Unzufriedenheit über Mittelmäßigkeit.“ Man könne das nicht einfach so akzeptieren. „Denn ich habe schließlich gesehen, wie vieles besser laufen kann, wenn man Prozesse anders lebt.“ Mende weiß und hat erlebt: „Es geht.“
„Kumi“ ist japanisch und bedeutet „Team“, also auch Zusammenarbeit. Die entwickelte App-Plattform ist kein Hexenwerk, künstliche Intelligenz spielt keine Rolle. Deswegen ist Kumi für Mende ein Gesundheitsunternehmen und keine „Tech Company“. Es geht um Standard-Software, die Abläufe in der Klinik strukturiert. Es entsteht ein klarer, transparenter Pfad mit Leitplanken, eine Liste von routinemäßig abzuarbeitenden diagnostischen wie auch therapeutischen Schritten.
Viele Start-Ups und Unternehmen befassen sich mit der Optimierung von Geschäftsprozessen sowie Kollaborationsplattformen. Asana, Trello, Basecamp oder auch das deutsche Start-Up Celonis - mittlerweile ein Decacorn - bieten über digitale Lösungen Rezepte an, um Ineffizienzen auf allen Ebenen etwa in der Verwaltung oder im Kundenmanagement zu beseitigen. Das generiert ein gewaltiges Einsparpotential für die Anwender. Bei Kumi Health geht es in erster Linie um eine verbesserte medizinische Versorgung; in einem Bereich, der immer noch stark von staatlichen Eingriffen und von öffentlich-rechtlichen Krankenhäusern gerpägt ist. Zunächst noch zweitrangig, kommen aber ebenso finanzielle Vorteile zur Geltung, insbesondere wenn es um private Klinikbetreiber und Krankenhausketten geht. Alle sind potentielle Kunden, von denen Kumi mit seinen 35 Mitarbeitern gerade einmal erst ein knappes Dutzend hat; allerdings durchaus mit Reputation - wie die Berliner Charité.
„Unser Ziel ist es, Behandlungsqualität reproduzierbar zu machen, die Prozesse zu beschleunigen, vor allem Informationen zu vervollständigen und verlässlicher zu machen.“ So sollen die Informationen über den Patienten zuverlässig, richtig, vollständig und schnell zur Verfügung gestellt werden. Dieser Standard ist Entscheidungsgrundlage für individuell auf Kranke zugeschnittene Therapien. Kumi bilde die Basisinfrastruktur in einem Krankenhaus – und das über die Zeitachse. „Bildlich gesprochen kann der Arzt von der Eingangstür des Krankenhauses schon bis zum Ausgang schauen.“
Es ist für Mende ein digitaler roter Faden, der sich durch das Krankenhaus zieht und dem man folgen muss. Befunde aus Untersuchungen werden gesammelt, ein Behandlungsplan erstellt und an die Ärzte übergeben. Der Informationsaustausch muss intensiv und rege sein, da Schichtwechsel und das sich ständig ändernde Krankenhaus-Personal auf dem aktuellen Stand bleiben muss. Das gewinnt gerade in heutigen Zeiten an Bedeutung, in denen Belastungen der medizinischen Kräfte hoch, Fluktuationen enorm und Personalengpässe groß sind.
Mende hat Kumi mit Philip Mahler, 42 Jahre, gegründet, der als Informatiker die Programmierkenntnisse eingebracht hat. Die erste Idee kam dem Arzt schon 2007; in einer Zeit, in der das neue iPhone begann, die Kommunikation zu verändern. Damals war Mende Assistenzarzt für Kardiologie in Lübeck. Doch war die Zeit noch nicht reif für seinen digitalen Plan. Der Drang zur Prozessoptimierung trieb ihn aus dem Krankenhaus in die Unternehmensberatung. 2012 ging er für zweieinhalb Jahre zur Boston Consulting Group (BCG). Danach startete er sein Unternehmen, finanziert durch eine Gruppe von Business Angels und Privatpersonen.
Heute sieht der Arzt mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen seine Zeit gekommen – dank des vor nicht langer Zeit verabschiedeten Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG), das 4,3 Milliarden Euro für die Modernisierung einschließlich digitaler Projekte vorsieht. „Mit dem Digitalisierungsgesetz werden die Krankenhäuser endlich gezwungen, sich mit digitalen Prozessen auseinanderzusetzen“, sagt er. „Wir kommen jetzt in unserer Zukunft an.“ Der staatlich geförderte Investitionsschub könnte Kumi einen „Push“ geben, hofft er. Denn: „Wir erbringen den Beweis, dass strukturierte Medizin mit digitaler Unterstützung möglich ist.“