Der Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 war das Ende des Icarus-Projektes, der Beobachtung von Wildtieren aus dem All. Die Zusammenarbeit des Max-Planck-Instituts mit der russischen Raumfahrtagentur Roscosmos war mit einem Tag beendet. Sieben Wissenschaftler der TU Dresden und der Vertriebsmanager Gregor Langer aus München haben Icarus wiederbelebt. In nur vier Monaten nach dem Russland-Überfall gründeten sie Talos. Sie haben ein disruptives, leistungsstarkes und kostengünstiges System entwickelt, um mit kleinen Satelliten die Bewegung von Zugvögeln, Fledermäusen und Nashörnern zu erfassen - und damit zugleich den „Puls der Erde zu fühlen". Nur drei Jahre nach Gründung des New-Space-Unternehmens soll es Mitte 2025 starten. Eine ungewöhnliche Gründergeschichte, bestückt mit reichlich Ideen und vielen konkreten Plänen.
München, 5. Juni 2024 - Von Rüdiger Köhn
Icarus ist die Leidenschaft von Gregor Langer. Nicht die tragische Figur aus der griechischen Mythologie, die mit ihren Wachsflügeln der Sonne zu nah entgegen flog und jäh abstürzte. Begeistert hat Langer, 42 Jahre und Elektroingenieur, der Icarus des 21. Jahrhunderts: ein Projekt der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) zur Beobachtung von Tieren aus dem Weltraum; Fledermäuse, Zug- und Wandervögel, Elefanten, Nashörner, Löwen oder Tiger etwa. Der Enthusiasmus ist so groß, dass Langer mit sieben an der TU Dresden beschäftigten Forschenden im Juli 2022 das New-Space-Startup Talos gegründet hat. Das will aus dem All die Bewegungen von mit Sendern ausgestatten Wildtieren von jedem Punkt der Erde aus aufzeichnen und auswerten.
Gemein hat der Icarus der griechischen Mythologie mit dem des MPG-Projekt allenfalls das Streben in die Höhe, nämlich in die niedrigere Umlaufbahn der Erde (LEO - Low Earth Orbit). Ansonsten jedoch ist Icarus (International Cooperation for Animal Research Using Space) ein von Professor Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie ersonnenes Kooperationsprojekt von Wissenschaftlern, vom Weltraum aus Wildtiere zu observieren. So sollen veränderte Verhaltensweisen erforscht, Artenschutz betrieben, Krankheiten (Schweinepest) rechtzeitig erkannt, daraus aber auch Vorhersagen für Klimaveränderungen und Naturkatastrophen abgeleitet werden.
Gregor Langer Foto Rüdiger Köhn
„Für uns ist Icarus ein tolles Projekt mit einer spannenden Technik und einer originären Applikation“, beschreibt Langer die Motive der Gründer. „Es steckt auch ein guter Business Case dahinter, das kann man skalieren.“ Doch der Aufbau von Talos ist zunächst durch das Forschungsprojekt der Max-Planck-Gesellschaft geprägt. Danach erst werden die Tracking-Aktivitäten auf die Viehzucht und sehr viel später womöglich auf die Logistik zum Beispiel mit dem Tracking von Container ausgeweitet. Das mag nach ferner Zukunft klingen, doch die Gründer sind schnell, wird der erste Satellit schon im nächsten Jahr ins All geschickt. Und sie haben einen genauen Plan mit konkreten Ideen und Visionen, die gar nicht so visionär, sondern ziemlich konkret sind. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die Entstehungsgeschichte des Münchner Startups ihresgleichen sucht. Vieles hört sich manchmal so lapidar und banal an, wenn man Langer zuhört. Ist es aber nicht.
Auslöser war der Überfall von Russland auf die Ukraine im Februar 2022. Zusammengebracht hat die Gründer ihre Leidenschaft für ein Projekt, das mit dem Ausbruch des Krieges todgeweiht gewesen ist. Max-Planck-Forscher Wikelski hat jahrelang für seine Idee gekämpft, um Icarus ins Leben zu rufen, was schließlich in der Kooperation mit der russischen Weltraumbehörde Roscosmos mündete. Die hat sein System im Jahr 2020 auf die Internationale Raumfahrtstation ISS genommen, von wo es seitdem erfolgreich operierte. Der Krieg hat die Zusammenarbeit von einem Tag auf den anderen beendet.
Den Talos-Gründern, die sich teilweise kaum kannten, geschweige denn Start-Up-Gelüste hatten, ging es darum, den Icarus des 21. Jahrhunderts nicht abstürzen zu lassen. Als Vertriebsmanager im Münchner Technologiekonzern und Icarus-Zulieferer Rhode & Schwarz hatte Gregor Langer mit der Raumfahrt zu tun, kam erstmals 2019 in Berührung mit dem Wissenschaftsprogramm und hatte über Kollegen zu den Forschenden der TU Dresden Kontakt, die in das Projekt involviert waren. Der Elektroingenieur ist als Verkäufer von Profession der Außenseiter in der ansonsten aus Wissenschaftlern und Technikern geprägten Gruppe, die das drohende Aus nicht verwinden konnte. Die Initiative, Icarus zu retten, kam aus Dresden. Man habe sich immer wieder darüber ausgestauscht und sich schließlich spontan im April 2022 in der Elbmetropole getroffen. Schnell waren sie sich einig. Plötzlich sei der Notartermin im Juli gewesen, grinst Langer.
Simulation Talos
„Icarus war tot, das war für uns der Initialpunkt, wir wollten es unbedingt fortsetzen“, erinnert sich Langer, Geschäftsführer, Strategiekopf und Verkäufer im Start-Up. Der Kern der Gründergruppe will namentlich nicht genannt werden. Sie forscht und entwickelt lieber in Dresden, will im Hintergrund arbeiten. Gregor Langer ist der Kommunikator. Mit ihm sind offiziell als Gründer noch Fabian Geissler, 29, sowie Tony Bauer, 31, genannt; beide Elektroningenieure, beide am Lehrstuhl für Hochfrequenztechnik an der TU Dresden sowie in der Raumfahrt engagiert.
Talos setzt die Idee von Max-Planck-Forscher Wekelski vollkommen neu um. Icarus erhält eine neue Dimension mit disruptiver Technologie. Langer spricht von „Icarus 2.0“. Icarus 1.0 war groß, schwer, teuer, energieintensiv, damit ein reines Forschungsvorhaben und nicht zu kommerzialisieren. Talos hat nichts mit dem System auf der ISS gemein, ist klein, effektiv, wesentlich leistungsstärker und vielfältig einsetzbar. In der noch jungen New-Space-Ära ergeben sich eben ganz neue effiziente, flexible, schnelle und damit auch kostengünstige Lösungen als noch vor zehn Jahren.
Die Sender, die an den Tieren befestigt werden und die Signale ins All funken, liefen schon mit derm ISS-System und gibt es in unterschiedlichsten Ausführungen. Talos versucht, diese weiter zu miniaturisieren und energieeffizient zu machen. Die aktuelle Version ist mit gerade einmal 25 mal 19 Millimeter halb so groß wie der kleine Finger der Menschenhand, soll aber mal die Größe eine Fingerkuppe haben. Sie wiegt fünf Gramm und kann in der Betriebsphase jederzeit neu konfiguriert, das heißt der Situation angepasst werden. Die mit Hilfe von GPS ermittelten Bewegungsdaten des Tieres werden, so Teil eins des Plans, gesammelt und einmal am Tag zum Satelliten übertragen.
Bei den Satelliten habe man indes bei Null angefangen; mit der Entwicklung eines zehn mal zehn Zentimeter großen, rund neun Kilogramm schweren Cubes mit neun Antennen für Empfang und Senden von Daten, jeweils 20 Zentimeter lang. Die Wissenschaftler und Entwickler aus Dresden haben ihre bis dato gemachten Erfahrungen mit Icarus 1.0 und ihre Expertisen aus anderen Raumfahrtprojekten eingebracht, weshalb sie zügig vorangekommen sind. Der kleine Würfel wird zusammen mit anderen kleinen Cubes für andere Zwecke in einer Struktur in einem größeren Satelliten eingebaut.
Im Juli 2023 - nur ein Jahr nach Gründung - hat Talos in einer europaweiten Ausschreibung der MPG den Zuschlag für den Aufbau dieses neuen Icarus-Systems erhalten, womit sich das junge Start-Up gegen die (nicht genannte) Konkurrenz durchsetzten konnte. „Wir sind damit Technologiepartner und -lieferant der Max-Planck-Gesellschaft“, sagt Langer. Der erste Cube wird ausschließlich für die MPG gebaut. Entwicklung und Bau sind fast abgeschlossen. Im August soll er an OroraTech, ebenfalls ein Münchner New-Space-Start-Up zur Früherkennung von Waldbränden aus dem All, geliefert werden. Das integriert den Würfel als ein Element von mehreren in den Satelliten. Dieser wird dann nach jetziger Planung Mitte 2025 mit einer SpaceX-Rakete in die niedrigere Erdumlaufbahn geschossen.
Damit hat Talos nicht nur eine Referenz, sondern betreibt schon drei Jahre nach Gründung operatives Geschäft. Für die Daten-Dienstleistungen bezieht es dann regelmäßige Einnahmen nach dem Abo-Modell SaaS (Software-as-a-Service). Geschäftsführer Langer spricht lieber von „TaaS - Tracking-as-a-Service“. Zudem erfolgen Zahlungen je nach Erreichen von Meilensteinen im Bau des Kleinstsatelliten.
Neben dem Icarus-Würfel bauen die Gründer fünf eigene Cubes gleichen Typs, die jedoch als Satelliten, also nicht in einer Struktur mit anderen Elementen ins All fliegen. Damit ergibt sich eine Konstellation von sechs Einheiten, die miteinander vernetzt werden - und das sehr zeitnah. Wenn alles reibungslos läuft, könnte das eigene Quintett ebenfalls Mitte 2025 hochgeschossen werden, mit einer Rakete der New-Space-Start-Ups Isar-Aerospace (München) oder Rocket Factory des Raumfahrtunternehmens OHB (Augsburg). Um die Startkosten muss sich Talos nicht sorgen. Denn im vergangenen Jahr hat es vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in einem Wettbewerb fünf Raketenstarts gewonnen. Das kommt einem Geldsegen gleich.
Statt einmal am Tag die auf der Erde gesammelten Bewegungsdaten von Tausenden von Tieren zu erfassen, kann dies mit den sechs Himmelskörpern dann alle vier Stunden erfolgen; das sind Bewegungsdaten - fast - in Echtzeit. Was Langer nicht unbedingt zu reichen scheint. Ideal würde für ihn ein Stundenrhythmus sein, wofür aber eine Konstellation von 24 Flugkörpern notwendig sind. Zunächst jedoch werden Erfahrungen gesammelt, ob die Abdeckung von vier Stunden reicht.
Der Auftrag von der MPG sichert einen ersten regelmäßigen Einnahmestrom, der den Auf- und Ausbau mitträgt. Zusammen mit erhaltenen und anstehenden Fördermitteln kann sich das Start-Up selbst finanzieren und ist nicht auf Kapitalgeber angewiesen. Icarus 2.0 ist ebenso eine wichtige Referenz in der Wissenschaft und ein Türöffner für Anschlussaufträge anderer Institutionen, womit sich erste Skalierungseffekte ergeben könnten.
Der Sender am Tier ... Foto Rüdiger Köhn
Der Weg über die Wissenschaft ist für Langer genau der richtige, zumal es die Icarus-Anwendung ist, die die Realisierung erst ermöglicht hat. Er verneint die Frage, ob dass das nicht ein zu spezieller und enger Markt sei. Talos will schließlich nicht Tausende Sender verkaufen, hinter denen regelmäßige „TaaS“-Erlöse stehen. Es sollen Hunderttausende werden. „Das ist unser Geschäftsmodell.“ Die Wildlife-Beobachtung böte das Potential für gut und gerne 10.000 Stück, selbst wenn das extrem aufwendig ist, da ein Sender an jeden Vogel, an jedes Nashorn oder an jeden Elefanten befestigt werden müssen. Doch die Community der Wissenschaft und Forschung sei groß, allein in Nord- und Südamerika. „Es ist ein Traum der Wissenschaftler, einen Gesamtüberblick über die Tierwanderungen weltweit zu bekommen, um so den Puls der Erde zu fühlen.“ Talos ermögliche genau das.
„Aber wir wollen mehr - von Icarus in die Viehzucht.“, zeichnet Langer die Roadmap auf. Die Landwirtschaft wird das nächste Betätigungsfeld sein. Mit einer Almbetreiberin aus Österreich hofft er, erste Erfahrungen in dieser Anwendung zu sammeln. Die hält ihre Kühe in den unwegsamen Bergen, die sich ständig bewegen und schwer zu finden sind. Eigentlich muss sie immer wissen, wo die sich herumtreiben. Nicht viel anders ist es in größeren Dimensionen bei den riesigen Rinderherden im argentinischen Patagonien oder im amerikanischen Texas. Zu wissen, wo sich die Rindviecher aufhalten und dass sie gesund sind, ist angesichts der enormen Werte eines solchen Tieres wichtig.
Doch in einem solchen Markt geht es kommerziell mit harten Bandagen zu. Fehler sind nicht erlaubt, anders als in der Wissenschaft, wo viellicht einmal ein Auge zugedrückt wird, wenn Daten verspätet eingehen sollten. Das System müsse fehlerfrei funktionieren, bevor Talos es in der Landwirtschaft einsetze. Klappt es, ist für Langer vorstellbar, schon ein Jahr nach Start des ersten Satelliten - also ab Mitte 2026 - in dieses Geschäft vorzudringen.
Anders als bei Wildtieren wie Fledermäuse, seltene Vogelarten oder Nashörner ist das Anbringen der Sender bei Rindern viel einfacher, die ehedem mit Ohrmarken versehen werden. „Warum gehen wir mit dem Sender nicht in die Ohrmarke“, überlegt Langer. So könnten große Herden wesentlich schneller und einfacher in das System aufgenommen werden. Für Langer ist das Skalierung par excellence.
Natürlich gibt es bereits lange Beobachtungssysteme für Tiere etwa über den irdischen Mobilfunk, das Satelliten-Kommunikationsnetz Iridium und per Satellit. Argos aus Frankreich etwa ist ein großer Anbieter, die australische Myriota oder Astrocast aus der Schweiz sind in dem Markt. Womit will Talos auftrumpfen? Allen voran sei es der technologische Sprung gegenüber konkurrierenden Systemen, antwortet Langer - und zählt auf:
- Größe und Gewicht von Sender wie Satellit seien ein Vorteil. Derzeit sind etwa die Systeme wie Antennen der potentiellen Wettbewerber deutlich größer.
... 25 mal 19 Millimeter groß Foto Rüdiger Köhn
- Die zu übertragenden Datenmengen sind umfangreicher und leistungsfähiger mit einer große Bandbreite in der Anwendung. Erfasst werden nicht nur Position, Höhe, Temperatur, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit und Beschleunigung. Für die spätere Anwendung in der Viehzucht interessant sind auch Gesundheitsdaten. Schon heute sind Sensoren bei Tieren im Einsatz, etwa im Pansen. Diese könnten per Bluetooth Informationen an das Talos-System übertragen.
- Die Daten können im Gegensatz zu anderen Systemen in kurzen Zeiträumen mehrmals am Tag erfasst werden, was die Genauigkeit erhöht.
- Der wohl wichtigste Punkt für Langer: „Wir sind sehr günstig.“ Die Kosten für Satelliten seien überschaubar, da deutlich weniger und kleinere eingesetzt würden und effektiv arbeiteten. Argos etwa operiert mit neun großen Satelliten, was deren Systeme sehr viel kostspieliger macht. Mit der angestrebten großen Zahl von Sendern im Stückbereich von Hunderttausenden und dem damit verbundenen Massengeschäft könnten attraktivere Preise angeboten werden.
Gregor Langer präsentiert in aller Ruhe die Talos-Welt, als sei sie unspektakulär, als würden die Gründer mit aller Vorsicht und Schritt für Schritt vorgehen. Ab und zu scheint es jedoch, als würde eine Idee gerade die andere überholen; so viele Pläne, wie die Gründer haben. Man beabsichtige, künstliche Intelligenz einzusetzen, die Flugrouten oder Tierbewegungen vorhersagen könnte, spricht Langer eher beiläufig einen nächsten, wichtigen Schritt an, wenn das System 2025 starten und von da an Unmengen an Daten erfassen sollte.
Den nächsten technologischen Sprung haben die Entwickler in Dresden mit dem „passiven Tracking“ vor Augen. In dieser komplexen Technik geht es darum, dass die angebrachten Sender sowie die Datenübertragungen ohne Strom auskommen, der derzeit durch Solarzellen und Akku bereitgestellt wird. Passives Tracking sei viel leistungsfähiger und garantiere den Einsatz über die gesamte Lebenszeit des Tiere
Dabei scheint es sich um ein realistisches, ziemlich konkretes Szenario zu handeln, wie sich aus den zurückhaltenden Aussagen von Langer deuten lässt. Würde man einen Pilotkunden für ein derartiges Projekt finden, könne womöglich im nächsten Jahr mit Entwicklung und Tests begonnen werden. Eine andere Dimension wird angesteuert. Statt des kleinen, neun Kilogramm schweren Cubes müsste dazu nämlich ein hundert Kilogramm schwerer Radarsatellit in der Größe eines kleinen Kühlschranks ins All geschossen werden. Diese Technologie könnte ihre Vorteile nicht nur im Wildtierleben oder auf Rinderfarmen ausspielen, sondern vor allem in der Logistik, dem größten Markt für Tracking. „Wir werden nicht die One-Product-Show sein, die auf Icarus fokussiert“, lautet die Devise von Gregor Langer.