Patrick Oehler und Christoph Hohenberger treibt die Vision, dass sich Mensch und Maschine besser verstehen sollen - vor allem die Maschine den Menschen. An der TU München forschten sie, um über Videoaufzeichnungen und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz menschliches Verhalten zu „dekodieren“. Mit ihren Erkenntnissen im „Visual Computing“ verließen sie den Elfenbeinturm und gründeten 2018 Retorio. Deren Software-Plattform ist zuerst für das Recruiting in Unternehmen genutzt worden. Sie kann Bewerber objektiv und unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft auf ihre Qualifikationen hin analysieren. Doch Retorio kann mehr und hat sich zur Trainingsplattform etwa für Vertrieb, Service und sogar in Führungsetagen entwickelt, wie sie Hapag-Lloyd oder Vodafone bereits anwenden.
20. März 2023 -Von Rüdiger Köhn, München
Ein Kunde im Autohaus bohrt den Verkäufer mit Fragen. Er komme gerade von Tesla, was könne denn seine Marke an Elektroautos bieten. Alles will der Interessierte wissen: Preise, Rabatte, Modellvarianten, Leistungen, Ausstattungen, Lieferzeiten und, und, und. Der Verkäufer müht sich, lässt den Kaufinteressenten schließlich ziehen. Bestellt hat er nicht.
Die Klappe fällt, das Video ist beendet. Der Kunde ist virtuell eingespielt, die Verkaufssituation simuliert. Der Dialog wurde aufgezeichnet. Der Kundenberater kann im Nachgang eine Einschätzung abrufen, die dessen Handeln und Wirkung umfassend analysiert - erstellt durch Künstliche Intelligenz (KI). Was hat er wie gesagt, wie hat er gewirkt, ist er freundlich, verschlossen, verkrampft gewesen, zeigt er Emotionen, spricht er umständlich oder unverständlich in langen Sätzen, verwendet er Slogans, die für Marke und Produkt stehen, hat er die richtigen Unternehmenswerte vermittelt? Die Software erkennt Mimik, Gestik, Sprache, Stimme oder Dialekt, kann sogar Gesprächsinhalte auswerten. Die KI ist eingebettet in Verhaltensanalysen. So entsteht ein erstaunlich präszises Bild über die Persönlichkeit des Verkäufers und die Art seiner Kommunikation.
Patrick Oehler mit Mitarbeiterinnen Foto Rüdiger Köhn
„Wir simulieren typische Kunden-Interaktionen“, sagt Patrick Oehler, Gründer und Vorstand von Retorio, einem Anbieter von KI-Software zur Analyse von menschlichem Verhalten. Im konkreten Fall gehe es um eine digitalisierte, automatisierte Vertriebsschulung. Die laufe wesentlich individualisierter und damit effektiver ab als im Training vieler Vertriebler in einem Seminarraum. „Der Mitarbeiter bekomme eine zuverlässige, präzise und persönliche Einschätzung, und wenn er will, das ganze im stillen Kämmerlein", sagt er. Außer ihm müsse das niemand sehen. Oehler, der mit seinem Partner Christoph Hohenberger das Spin-Off aus einem Forschungsprojekt der TU München 2018 gegründet hat, macht sofort klar, dass es bei der angebotenen Technologie nicht um Auspähung von Mitarbeitern geht, schon gar nicht darum, ihn zum gläsernen Angestellten für den Arbeitgeber oder Vorgesetzten zu machen.
Oehler, 34, und Hohenberger, 37, haben eine KI-Software entwickelt, die das Verhalten von Menschen gegenüber ihren Gesprächspartnern dekodiert. Dazu sind eine Fülle von Videodaten erfasst worden, die durch Machine Learning antrainiert werden. Dabei soll Retorio möglichst objektive Urteile über Menschen abgeben und subjektive, emotionale und diskriminierende Einflussfaktoren ausblenden, zu denen Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Dialekt, Kultur oder Haarfarbe gehören. „Es geht darum, objektiver als der Mensch zu analysieren". Dabei treffe die Plattform selbst keine Entscheidungen, sie unterstütze vielmehr Entscheidungsprozesse.
So wundert es nicht, dass die Plattform zunächst in Personalabteilungen für Bewerbungen und Auswahlprozesse eingesetzt worden ist. Retorio stellt nach dem Interview eines Kandidaten den Entscheidungsträgern eine Zweitmeinung bereit. Doch ist das Münchner Start-Up in den vergangenen zwei Jahren schnell aus der Recruiting-Plattform herausgewachsen und hat sich zum KI-Multi-Trainingssystem gewandelt. Die Technologie lässt sich einfach skalieren und wird inzwischen als Schulungsinstrument für Vertrieb, Service oder für Führungsqualitäten in Unternehmen eingesetzt., kann aber ohne weiteres auf Einkauf, Beschaffung, Telesales, -services oder andere Bereiche erweitert werden.
Christoph Hohenberger und Patrick Oehler Fotos Retorio
„Wir bauen mittlerweile für viele Großunternehmen Vertriebsteams auf, auch global“, sagt Oehler. Mit dem Recruiting würden noch rund 30 Prozent des Geschäftes bestritten. Training insbesondere für Vertrieb steuerten inzwischen am meisten zum Umsatz bei. Neben kleinen und mittelständischen Firmen richte sich der Fokus immer mehr auf Konzerne. Derzeit zählen zwölf namhafte Großunternehmen, auch aus dem Dax, zu den Kunden. Nur wenige Größen outen sich als Referenz: die Reederei Hapag-Lloyd, der Telekommunikationsanbieter Vodafone, die zu Samsung gehörende Harman-Gruppe (Unterhaltungselektronik) oder die digitale Personalplattform Personio. Noch wichtiger: Zwei deutsche Autokonzerne gehören zur Klientel, deren Namen Oehler nicht nennen darf. Dabei hat einer von ihnen maßgeblich zur rasanten Fortentwicklung von Retorio und zu dessen Portfolioerweiterung beigetragen. Der nutzte Retorio zunächst für das Recruiting, erkannte das Potential der Plattform und setzte sie für das Vetriebstraining ein.
Um diesem wichtigen Entwicklungspartner doch auf die Spur zu kommen, muss man sich die drei Buchstaben rpc anschauen, die sich in der überschaubaren Liste der Kundenreferenzen auf der Retorio-Webseite finden. Das Kürzel steht für die Unternehmensberatung „Retail Performance Company“, und die ist ein Gemeinschaftsunternehmen von - hört, hört! - BMW und H&Z Management. Es hat sich nach eigenen Angaben auf die Vertriebseffizienz im Automotive spezialisiert und bietet Consulting „im Spannungsfeld zwischen analoger und digitaler Welt an“, hat die Beratung auf die Branchen Einzelhandel, Konsum, und Finanzindustrie ausgeweitet. Zu Kunden von rpc zählen natürlich BMW, aber auch Nutzfahrzeughersteller MAN, der Versicherer Allianz und die Telekom. rpc als wichtiger Türöffner für Retorio?
Es sind in erster Linie Unternehmen aus Branchen, die vor großen Transformationen stehen und daher die Plattform als Abo-Modell Software-as-a-Service (SaaS) nutzen: die Autoindustrie (E-Mobilität, Vernetzung), Versicherungen (Online-Vertrieb), Logistik (Störungen in globalen Handelsverkehren), Pharma (zunehmendes Auslaufen von Patenten), Tourismus mit Fluggesellschaften und Hotelgewerbe (Folgen des Lockdowns). „Wir haben ein Werkzeug entwickelt, mit dem die Wirtschaft auf die disruptiven, schnelllebigen Zeiten reagieren kann“, sagt Oehler.
Simulation eines Verkaufsgespräches via Video
Die KI von Retorio sucht nach Mustern aus einer Fülle von Videodaten, die zum einen extern erhältlich sind. Dazu gehört die umfassende Untersuchung Fairface, die Wissenschaftler der University of California Los Angeles (UCLA) anhand von fast 110.000 Personen aus unterschiedlichen Kulturen und Altersgruppen erstellt haben. Noch wichtiger sind die im Zuge der Forschungsrabeit der Gründer selbst erfassten Video-Datensätzte von 12.000 Personen, die von 2500 Beobachtern aus fünf Kontinenten nach wissenschaftlich anerkannten Modellen erfasst wurden. „Wir können so die Wahrnehmung einer Person im Prinzip durch die Augen von vielen tausend Menschen simulieren, deren Eindrücke erfasst worden sind“, sagt Oehler. „Das ermöglicht einen gewissen Grad an Objektivität.“ Es handele sich somit um repräsentative Datensätze. Die werden laufend um Videodaten aktualisiert, die von Kunden geliefert werden.
Die Gründer hat während ihrer sechs Jahre währenden Forschungsarbeit am Lehrstuhl „Strategie und Organsiation“ der TU München ein Thema umgetrieben: Wie kann man menschliches Verhalten zuverlässig und möglichst neutral durch eine Technologie analysieren, was am Ende auch das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine beeinflussen kann und soll. Oehler hat informationsorientierte BWL an der Universität Augsburg und Management & Strategy an der London School of Economics studiert, bevor er 2013 mit Forschung und Promotion an der TUM begann und sich auf die Verhaltensforschung konzentrierte. Hohenberger hat er im Zuge des Forschungsprojektes kennengelernt. Der studierte Wirtschaftspsychologie und promovierte in Psychologie. Er arbeitete als Gastwissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und befasste sich unter anderem mit der Frage, wie muss Technologie, insbesondere KI aussehen, damit sie von Mensch und Gesellschaft akzeptiert werden.
Für ihre Studien spielten sie selbst Versuchskannichen. Als Doktoranden mussten sie vor 1200 Studenten Vorlesungen halten, die aufgezeichnet wurden und im Internet zugänglich waren. Nicht nur, dass man sich seinen eigenen Auftritt noch einmal über eineinhalb Stunden ansehen durfte; auch die beachtliche Zahl von Kommentaren der Studenten dazu gingen nicht spurlos an ihnen vorbei. Eine mitunter ziemlich „unangenehme, schmerzliche Angelegenheit“, wie sich Oehler erinnert. Sie haben daraus gelernt. „Die Kommentare wurden weniger schlimm“, lacht er.
So kam der Gedanke, etwas im Visual Computing zu entwickeln. Ohnehin wollten beide nicht im Elfenbeinturm sitzen bleiben und hegten schon länger Start-Up-Gedanken, Das war im Jahr 2017. Am Anfang dachten sie noch daran, ein Trainingsangebot für Studenten für bessere Auftritte zu entwerfen. Doch damit ließe sich kein Geld verdienen, weshalb man dann Modelle für Unternehmen zum Beispiel für Personalabteilungen ins Auge gefasst hat. Oehler und Hohenberger bezogen einen Raum im Inkubator in Garching, den TUM und den von BMW-Erbin Susanne Klatten gegründeten Start-up-Förderer UnternehmerTUM betreiben. Dort schwirren täglich Scouts von Investoren und Unternehmen auf der Suche nach Geschäftsmodellen herum.
Zwischenergebnis
Der Vertreter eines damals noch im Dax notierten Unternehmens (Name ist tabu) sprach die Doktoren auf ein Projekt im Bereich Recruiting an, das die jungen Gründer übernahmen - und lösten. Kunde wurde der Dax-Konzern nicht, da dieser das Thema nach den Erkenntnissen ad acta gelegt hat. Dafür klopfte der Autokonzern an. Mit einer Förderung aus dem EXIST-Programm bauten Oehler und Hohenberger die Grundstruktur und gründeten Mitte 2018 Retorio. Schon in der ersten Runde (Pre-Seed) sammelten sie einen Millionenbetrag an Startkapital bei Investoren ein.
Schnell hat sich ein sensibles Thema erledigt, das den Gründern anfangs Sorgen bereitete: der Schutz der Persönlichkeit. Die ersten Erfahrungen mit Trainingsanwendungen hätten gezeigt, dass es keine Vorbehalte in Sachen IT-Sicherheit, Datenschutz oder auch von Betriebsräte gegeben hat, nicht zuletzt wegen des objektiven, neutralen Charakters der Plattform und der Wahrung der Privatsphäre. Das war ein wichtiger Treiber, um verstärkt und gezielt große Unternehmen anzusprechen, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit agieren.
Die Retorio-KI entfaltet auch keine Eigendynamik und kann somit nicht außer Kontrolle geraten. Sie lerne zwar dazu, sagt Oehler, entwickele jedoch nicht selbständig eigene Muster. Das ist so etwas wie Selbstschutz: Es wird dadurch nämlich vermieden, beobachtete Voreingenommenheiten auf die Software-Plattform zu übertragen und menschliches Fehlverhalten nicht eins zu eins zu übernehmen oder diese gar noch zu perfektionierens. „Daten, die einfließen, werden zuvor von Menschen begutachtet und analysiert.“ Oehler nennt das „Supervised Learning“, beaufsichtigtes Lernen.
Bewerberanalyse - made by AI
Größte Herausforderung für die Gründer ist derzeit, sich nicht mit zu vielen Anwendungen gleichzeitig zu verzetteln. Mit dem Fokus auf Großunternehmen ist es ziemlich dynamisch für Retorio geworden. Im vergangenen Jahr erzielte das Start-Up mit aktuell 30 Mitarbeitern noch einen sechsstelligen Umsatz, 2023 soll er ein Millionen-Volumen erreichen. „Ziel ist es, jedes Jahr den Umsatz zu verdreifachen“, gibt sich Oehler ehrgeizig. Wichtig sei jedoch, eine gesunde Wachstumskurve zu finden. Zwei Finanzierungsrunden sind bis jetzt erfolgt, die letzte im vergangenen Oktober im ebenfalls siebenstelligen Umfang, bereitgestellt von den Investoren Conviction VC, Basinghall Partners und Sofia Angels Venture. „Wir können belegen, dass die Technologie funktioniert und sich profitabel verkaufen lässt.“
Die Visionen der beiden Gründer gehen weiter. Sie wollen eine neue, weitreichende Grundlage für die Interaktion von Mensch und Maschine schaffen. Das wird noch dauern, bis es soweit ist. Oehler sieht sich zurzeit noch im Sandkasten. Was, wenn er und Hohenberger da rausgestiegen sind? „Vielleicht verstehen Roboter irgendwann tatsächlich, wie sich Menschen verhalten“, sagt er. „Damit sind sie besser und schneller in der Lage, auf ihn zu reagieren und können sich optimal anpassen.“ Also die Maschine soll sich nach wie vor dem Menschen unterwerfen; nicht umgekehrt, wie man oft den Eindruck mit dem unaufhaltsamen Vorrücken von KI gewinnen kann. Den Einsatzmöglichkeiten seien am Ende kaum Grenzen gesetzt, im Krankenhaus, in Pflege- und Altenheimen, Fabriken, im Smartphone oder im Auto. „Warum nicht auch Dating-Plattformen", lacht Patrick Oehler, um dann gleich wieder ernst zu werden: Vielleicht könne eines Tages ein humanoider Roboter einem Demenz-Kranken zur Seite stehen und ihm einem Menschen gleich helfen.