Greifbar zu machen, was schwer greifbar ist. Das haben sich Janik Jaskolski und seine beiden Mitgründer mit Semalytix zum Ziel gesetzt. Was sind die Bedürfnisse, Erfahrungen und Leiden von kranken Menschen. Das erzählen sie nicht unbedingt ihrem behandelnden Arzt, sondern schreiben sich Schmerz und Frust lieber im Internet von der Seele. Abermillionen Einträge gibt es, die die Ausgründung der Universität Bielefeld weltweit erfasst und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz auswertet. Die dahinter stehenden Informationen können für Gesundheitswesen und die Pharmaindustrie zur wertvollen Hilfe werden, die Entwicklungen von Medikamenten beschleunigen und auch kostengünstiger machen.
15. Juli 2022, Von Rüdiger Köhn, München
Objektivität in der Medizin gibt es nicht. Selbst vermeintlich belastbare klinische Studien der Pharmaindustrie, die Grundlage von Zulassungen für Medikamente sind, Forschungsergebnisse, Tests, Befunde von Ärzten, Untersuchungen von Krankheiten unterliegen persönlichen Bewertungen. Im Netzwerk von Ärzten, Forschern, Pharmaunternehmen, Regulatoren oder Gesundheitspolitiker, die täglich Entscheidungen treffen, sind Kranke und Patienten Gegenstand ihres Handelns - ohne dem Betroffenen offenbar gebührend Gehör zu verschaffen. Zugegeben: Die Eindrücke eines Patienten sind die subjektivsten Beobachtungen - und daher zu verzerrend? Wohl deshalb haben sie bisher kaum Niederschlag in der Medizin gefunden: nämlich Empfinden, Gefühle, Beobachtungen, der persönliche Umgang des Patienten mit einer Krankheit.
Darauf kommt es Janik Jaskolski an. „Für kranke Menschen ist es nicht wichtig, ob am Ende ein Medikament gegen Diabetes um 3 Prozent besser in einer klinischen Studie abschneidet“, sagt der Vorstandschef und Gründer von Semalytix. „Für den Kranken ist entscheidend, ob ein Medikament einen Wert entfaltet, nämlich ob es heilt oder den Schmerz lindert und er sich subjektiv besser fühlt.“ Was nütze ein festgestellter verbesserter Wert in einer Arzneimittel-Studie, wenn der Kranke keinen positiven Effekt spürt. Da komme man einfach um die persönlichsten Eindrücke der Betroffenen nicht umhin.
Janik Jaskolski Fotos Semalytix
Da setzt das 2015 in Bielefeld gegründete MedTech-Unternehmen Semalytix an. Die Ausgründung der Universität Bielefeld betreibt keine Studien, forscht nicht nach Therapielösungen. Es hört einfach den Patienten und deren Umfeld zu. Oder besser: Es erfasst mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz Millionen und Millionen Aussagen von Betroffenen, die sie nicht selten auch ob ihrer Verzweiflung in Online-Foren mit anderen Kranken auf der Welt teilen. Es sind persönliche bis intime Berichte über Belastungen, Symptome, Erfahrungen mit Therapien oder auch über allgemeine Lebensumstände, die ins Worldwideweb gestellt werden. Patienten suchen so auch nach Antworten oder Rat, weil Therapien und die Hilfen von Ärzten nicht anschlagen. Wenn es zum Beispiel darum geht, zu Hause ein verschriebenes Medikament einnehmen zu müssen, der Betroffene es jedoch nicht mehr tut, weil das Schlucken einer zu großen Tablette oder das Setzen einer Spritze selbst große Schmerzen bereitet. Der behandelnde Arzt weiß nichts davon; der Patient berichtet darüber lieber im Netz.
Die Technologie von Semalytix kann mit der Analyse der getroffenen Aussagen helfen, auf Probleme aufmerksam zu machen, von denen niemand etwas weiß. Oder sie kann Symptome einer Krankheit von Nebenwirkungen einer Therapie abgrenzen, wenn es beispielsweise um Kopfschmerzen geht. „Der psychologische Faktor, was es überhaupt heißt, krank zu sein, spielt eine enorme Rolle, und darüber reden Patienten mit Leidensgenossen über Foren“, sagt Jaskolski. Und viele würden es vorziehen, Sorgen, Nöte und Leiden einfach niederzuschreiben. „Wir wollen versuchen, etwas greifbarer zu machen, was schwer greifbar ist.“
Semalytix hat eine Plattform entwickelt, mit der die „allgegenwärtigen Probleme einer Krankheit“ angegangen werden sollen. Die Lebensqualität, wie es die UN-Weltgesundheitsorganisation WHO definiert, sei in der heutigen Medizin und der Behandlung häufiger Krankheitsbilder unterrepräsentiert, mahnt der Unternehmensgründer. Es gehe darum, Zugang zu authentischen Patientenperspektiven zu erhalten und diese zu verstehen. Oft erzählen nämlich Betroffene ihren Leidensweg mit konkreten Auswirkungen auf das tägliche Leben anders als ein Arzt. So könnten auch Nebenwirkungen sowie Krankheitsverläufe transparenter gemacht werden. Mit dem Einbeziehen einer bislang vernachlässigten Perspektive könnten Behandlungen und künftige Generationen von Medikamenten optimiert werden, hofft Jaskolski. Semaliytix hat weit mehr als 20 Millionen solcher im Internet erschienenen Kommentare in mehr als 20 Sprachen erfasst und ausgewertet. So hat es das Unternehmen geschafft, mehr als 20 Krankheiten mit einem anderen Blickwinkel zu analysieren. Ein Datenschatz im Kampf gegen Krankheiten entsteht, für den die Pharmaindustrie großes Interesse zeigt.
Der Aspekt der „Patientenzentrierung“ - weg von der Sicht der Ärzte und der Medizin - wurde zum Beispiel in der Pharmaforschung wegen der „unendlichen Komplexität“, wie Jaskolski es formuliert, bis dato nicht ihrer Bedeutung entsprechend berücksichtigt. Das Bewusstsein dafür scheint sich indes zu ändern, fokussieren Pharmahersteller mehr und mehr auf Patienten-Wahrnehmungen, ebenso die Regulatoren. Vor einigen Jahren hat die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) als eine der strengsten Gesundheitsbehörden der Welt mit dem „Patient-Focused Drug Development“ Richtlinien formuliert, die die Bedürfnisse und Erfahrungen von Patienten in den Vordergrund stellen. „Wenn die schon so etwas einfordern, dreht das den Kompass“, sagt Jaskolski. „Klinische Studien reichen nicht mehr; es muss berücksichtigt werden, was der tatsächliche Echtwert-Nutzen ist.“
Das von Semalytix entwickelte System soll so dazu beitragen, in einem holistischen, also ganzheitlichen, Angebot die Kosten zu reduzieren, die Entwicklung von Medikamenten zu vereinfachen, die Komplexität zu verringern und damit die Prozesse zu beschleunigen. „Unsere Vision ist es, Patienteninformationen zu einem realen Leistungsindikator in der Arzneimittelentwicklung zu machen“, sagt Jaskolski. Die Software-Plattform namens „Pharos“ sammelt Patientenstimmen aus öffentlich zugänglichen sozialen Netzwerken. Nie werden konkrete Informationen aus Patientenakten oder Befunde einzelner Patienten verwendet. Die Aussagen sind anonymisiert und werden anhand von Algorithmen, im weiteren Schritt auch mit Künstlicher Intelligenz sortiert, strukturiert sowie ausgewertet. So erkennt Pharos an Wortkombinationen, ob der Autor des verfassten Textes ein selbst Betroffener, ein Familienmitglied oder ein Helfer im Umfeld des Patienten ist. Dies ist im Falle von Demenz oder Alsheimer von Bedeutung, da der Betroffene womöglich nicht mehr in der Lage sein kann, Erfahrungen niederzuschreiben.
Die KI ist ebenso in der Lage, auch gesprochene Aussagen zu analysieren, womit die Stimmungslage ergründet werden kann. Daran arbeiten viele. Das in München beheimatete Start-up audEERING zum Beispiel hat eine Sprachanalyse entwickelt, mit der über Künstliche Intelligenz Emotionen, Gefühle, Charaktereigenschaften und sogar Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz zu erkennen sind (siehe „audEERING: Eine Stimme verrät Corona“ vom 16. März 2021 https://www.passion4tech.de/blog/audeering-die-stimme-verrät-corona und „audEERING: Eine Dynamikerin und vier Nerds“ vom 13. Mai 2021 https://www.passion4tech.de/blog/audeering-eine-dynamikerin-und-vier-nerds). Ob Schrift oder Sprache: Die von Semalytix entwickelte Software kann wesentliche Elemente aus den Vorlagen extrahieren, um Gesundheitszustand und Wohlbefinden der Patienten festzustellen.
Das erfolgt auf der Grundlage einer von der WHO erstellten Taxonomie, dem Modell eines Fragebogens, mit dem nach bestimmten Kriterien klassifiziert werden kann. Das ist das Gerüst für den Algorithmus gewesen. Wie gehen Menschen mit Krankheit um? Haben sie physische und psychologische Leiden? Wie bereinträchtigend und vor allem wie groß ist der Schmerz? Wie sieht es mit der Bewegungsfähigkeit aus? Sind die Betroffenen in der Lage, ihre täglichen Aktivitäten auszuüben? Diese Aspekte werden unterschieden in Krankheit, Population und Geographie. Zusammen mit riesigen Datenmengen aus den Online-Foren, mit Informationen aus öffentlichen Datenbanken, wissenschaftlichen Arbeiten, Untersuchungen und Studien kann man beginnen, die Krankheiten zu modellieren; so finden sich mittlerweile mehr als zwanzig davon auf der Liste. Dazu gehören Brustkrebs, Diabetes, die Darmkrankheit Morbus Crohn, Psoriasis, Melanome, die Autoimmunkrankheit Lupus oder Fettleibigkeit.
Semalytix erfasst mittlerweile im Monatsrhythmus neue Krankheiten oder erweitert das Spektrum etwa im Bereich von Krebs. Noch immer aber werden - trotz Einsatz von Software und KI - zunächst geradezu archaisch Daten gesammelt und Excel-Tabellen erstellt, bevor die Maschinen dann endlich anfangen können, zu lernen. „Wir müssen unserer Technologie jede einzelne Krankheit beibringen“, lacht Jaskolski. Nicht nur Software-Entwickler recherchieren, auch linguistische und klinische Experten sowie Fachleute aus Chemie, Biologie und Pharmazie gehören zu den Teams, die erst einmal ein Fundament aufbauen. Anfangs habe die Erfassung sechs Monate gedauert, heute benötige man ein paar Wochen. Und inzwischen sei der Punkt erreicht, auch mehrere Krankheiten parallel zu erfassen. Was Pharos auf der Seite der Datenerfassung, des Daten Mining und der Analyse ist, nennt Semalytix auf der Angebotsseite „Sphinx“ - eine Plattform, die Kunden, allen voran Pharmakonzerne, über das Abo-Modell Software-as-a-Service (SaaS) nutzen können.
Matthias Hartung, Janik Jaskolski, Philipp Cimiano (v.l.)
Programmierer Janik Jaskolski, 35 Jahre, bezeichnet sich selbst als Nerd. Computer und IT haben ihn schon als Kind interessiert; früh übte er sich im Schreiben von Codes. Er hat am CITEC-Institut der Uni Bielefeld Kognitive Informatik und Intelligente Systeme studiert, das ist eine Art Kombination aus Neurobiologie und Informatik. Dass er Tinnitus hat, ist nicht ursächlich gewesen für die Gründung des Start-Ups. Aber das ständige Ohrensausen, das mit einer erheblichen Störung des Gehörs und einer extremen Lärmempfindlichkeit einhergeht, haben das Verständnis für Probleme und Leiden von kranken Menschen für ihn greifbar gemacht. Er hat das volle Programm der klasssichen Medizin im Kampf gegen Tinnitus durchgezogen. Infusionen, teure Sauerstoffteharpien in einer Druckkammer, Musiktherapien haben nicht geholfen.
Der Hörsaal kam ihm manchmal vor, als würde er auf den Gleisen inmitten eines Hauptbahnhofes stehen - mit all dem Krach von Zügen und Menschen. Er fand einen Ansatz in der Musik. Die E-Saite einer Violine hat es ihm angetan. Das sei der Ton, den er am besten höre und der ihm helfe. Er kaufte sich eine Geige und lernte mit 27 Jahren, sie zu spielen. Nach 16 Jahren Tinnitus kann er einigermaßen mit der Krankheit leben; nicht weil sie physisch therapiert ist. „Aber ich konnte mein Emotionskostüm drumherum ändern und verbessern“, sagt er. „Mittlerweile kann ich wieder ohne Geräuschkulisse schlafen.“ Bis dahin musste er im Hintergrund immer Musik spielen oder das Radio angeschaltet lassen, um vom piepsenden, stechenden Ton abgelenkt zu werden. Über so viele Jahre musste er mit der Angst ins Bett gehen, ob er nachts überhaupt schlafen kann. Es waren ganz subjektive Empfindungen und Gefühle, die entscheidend zur Besserung beitgetragen haben, auf die zuvor niemand eingegangen war.
Der „initiale Kick“ für die Ausgründung von Semalytix ging indes nicht von ihm aus. Dafür waren Philipp Cimiano und Matthias Hartung verantwortlich. Dreh und Angelpunkt war das CITEC-Institut und die Projektgruppe „Semantic Computing Research“, der Nukleus von Semalytix. Das Projekt erforschte die KI-gestützte Auswertung von Texten und Worten. Dort haben sich die drei Gründer kennengelernt. Cimiano, 44 Jahre, ist der Professor von Jaskolski gewesen, der das Projekt gründete und leitete. Er hat an der Universität Stuttgart zu Beginn des Jahrtausends sein Diplom in Computerwissenschaft gemacht und ist über die Jahre als Professor an der Universitäten Heidelberg und als Forscher am Karlsruher Institute of Technology der Uni Karlsruhe zum Experten für Künstliche Intelligenz geworden. 2009 kam er als Professor an die Uni Bielefeld. Matthias Hartung, 42 Jahre, hat in Heidelberg Computerlinguistik studiert und war zur gleichen Zeit wie Cimiano in Karlsruhe. In der CITEC-Forschungsgruppe arbeitete er als Doktorand. Jaskolski ist im Zuge seiner Masterarbeit zu dem Team gestoßen.
In ihrer Forschungsarbeit haben sie Rezensionen über Fernstudiengänge untersucht und sind in dem Zusammenhang auch auf Auswertungen in der Pharmaindustrie gestoßen. Die Idee entstand, Patientenstimmen in Online-Foren zu suchen und zu analysieren. Schon während der Forschung war bereits ein Interesse von Pharmaunternehmen zu vernehmen. So finden sich heute Unternehmen unter den größten Zwanzig der Branche weltweit, die mit Semalytix arbeiten. Der Schweizer Konzern Roche ist ein wichtiger Kooperationspartner.
Mit dem ausgereiften Analyseinstrument für ein inzwischen deutlich erweitertes Portfolio an Krankheitsbildern sei das Produkt marktreif, könne die Kommerzialisierung voll in Angriff genommen werden. Der Kreis der potientiellen Abnehmer geht weit über die Pharmabranche hinaus. Gesundheitsdienstleister, Regulatoren, Wissenschaftler, Forscher, ja auch die Patienten selber sollen die Technologie nutzen können, wünscht sich Jaskolski einen breiteren Kundenkreis. Er weiß: Es ist ein „Akt“, alle Interessenten und Stakeholder in einer Plattform zu integrieren, inklusive einer Fülle verschiedenster Datenquellen, die über Patientenstimmen hinaus gehen; von der WHO, Zulassungsbehörden über wissenschaftliche Studien bis hin zu Forschungsarbeiten. Allein rund 400.000 Studien kommen jährlich von Pharmaherstellern.
Und es keimt Hoffnung auf, nämlich schneller, auch kostengünstiger als bisher neuen Krankenheiten auf die Spur zu kommen und sie zu bekämpfen, Antworten auf lange Zeit quälende Fragen zu finden. Das trifft aktuell etwa auf die Corona-Pandemie zu. Gleiches gilt für die schon lange grassierende, bis vor wenigen Jahren noch nicht erkannte schwere, tückische Krankheit des Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrom, das immer mehr Menschen einen normalen Alltag unmöglich macht. Der Kenntnisstand über das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) ist noch sehr dünn, gibt es keine Therapien. Corona sei, sagt Janik Jaskolski, sehr aktuell und noch schwer in seinem Gesamtbild zu erfassen, stünde aber auf dem Radar. Auch CFS sei ein Thema und ein gutes Beispiel für eine Herausforderung, der sich Semaliytix annehmen sollte. Jaskolski zögert, denkt nach. Er kann sich nach längerem Überlegen vorstellen, das Thema womöglich dieses Jahr aufzugreifen. Aber er weiß, das wird eine äußerst harte Nuss sein - selbst unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz.