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17 Oct
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Zuerst haben Christopher und Benjamin Hill entschieden, selbstständig zu werden. Erst dann gingen die Brüder aus Siegen auf die Suche nach einem Geschäftsmodell. Während des Studiums entstand die Idee einer Lieferantensuchmaschine, die seit  2020 im Start-up ensun realisiert wird. Anders als Google adressiert sie Unternehmen, die nach Lieferanten-Beziehungen, nach Partnerschaften und Kooperationen suchen. Automatisierte Firmenprofile werden unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz erstellt. Wenn eine Ähnlichkeit mit Google besteht, dann nur, weil sich ensun mit 25 Millionen gespeicherten Unternehmen und 250 Millionen Produkten mehr und mehr von einer geschlossenen zur offenen Plattform wandelt.

München, 17. Oktober 2024 - Von Rüdiger Köhn


Die Brüder Christopher und Benjamin Hill könnten aus dem Silicon Valley kommen. Allerdings mit verkehrten Vorzeichen: Erst Entrepreneurship, dann die Technologie. Im kalifornischen Tal der Start-ups tüfteln technologieaffine, aber geschäftsunerfahrene Gründer in der Regel zuerst ein innovatives Produkt aus, um dann auf die Idee zu kommen, das in ein kommerzielles Konzept zu packen.

Für Chris, 27, und Ben, 24, hat schon im Jugendalter festgestanden, dass sie selbstständig werden. Also musste ein Geschäftsmodell her. Das haben sie während des Studiums gefunden: eine mit Künstlicher Intelligenz arbeitende Lieferantensuchmaschine. „Für uns hat immer das Thema Selbstständigkeit gebrannt“, sagt Ben. Komplett ohne Berufserfahrung haben sie ensun Ende 2019 gegründet. Ursprung war der Gedanke, Firmen den Zugang zu neuen Technologien, Produkten und Dienstleistungen zu erleichtern.

                              Benjamin (links) und Christopher Hill                              Fotos ensun

Was die Siegener mit ensun gegründet haben, hat Silicon-Valley-Qualitäten à la Google. Wirtschaftsinformatiker Ben und Betriebswirt Chris haben eine Suchmaschine für Unternehmen entwickelt, die Informationen über Firmen, Produkte, Innovationen, Technologien und klassischen Industriebedarf liefert und die Tür zu Lieferbeziehungen und Zusammenarbeiten öffnet.

Auf den ersten Blick klingt das in der Tat nach Google. Was bedarf es dann noch einer Suchmaschine von ensun? „Die Grundidee, gigantische Informationen zu sammeln, ist natürlich die gleiche“, sagt Ben, zuständig für Entwicklung und Finanzen. „Aber wir verfolgen einen anderen Ansatz und eine andere Motivation.“ Ziel der größten Suchmaschine aus den USA sei es, die beste Information so schnell wie möglich jedem Suchenden anzubieten. „ensun zielt nur auf Unternehmen.“ 

Google für Unternehmen

Adressiert werden ausschließlich Geschäftstreibende, ist ensun eine Plattform für Business-to-Business (B2B). „Unsere Mission ist nicht nur, eine Information zu liefern, sondern Firmen einen Mehrwert zu bieten“, sagt der Gründer. Gemeint ist eine Vermittlung von Geschäftsbeziehungen. Man kann auch von Geschäftsanbahnungen sprechen - oder vom Verkuppeln von Firmen. Auf der Marktplattform können sie - einerseits - Lieferanten und Partner suchen oder - andererseits - ihre Services anbieten.

ensun ist ein Staubsauger von Daten, die per KI analysiert, indexiert und veredelt werden. So entstehen automatisiert umfassende Firmenprofile. „Uns geht es darum, für einen Suchenden das beste Unternehmen und die beste Technologie für die Lösung ihrer Probleme zu finden“, sagt Benjamin Hill. ensun sei wesentlich fokussierter und identifiziere einzig Unternehmen, fügt Chris hinzu. „Auf unserer Plattform findet man keine Zeitungsartikel oder Wikipedia-Einträge, die Quellen sind immer die Firmen selbst.“

Gibt ein Suchender zum Beispiel „Quantencomputing“ ein, findet er bei Google etwa auch Studien von Unternehmensberatern zu dem Thema, die unter Umständen sogar unter den Top-Ten-Ergebnissen auftauchen. „Das filtern wir raus“, sagt Ben. Die von ensun angewendete KI sammele relevante Daten aus Hunderten von Millionen Websites, extrahiert weniger nützliche Daten, um eine Verzerrung zu vermeiden. Die Qualität der Information ist für B2B-Ansprüche so im Vergleich zu den großen gängigen Suchmaschinen wesentlich höher und zielgerichteter. Unter dem Suchbegriff "Quantencomputing" erscheinen etwa 10.000 Einträge.

Geöffnete B2B-Plattform

ensun setzt sich mit einer mittlerweile offenen Plattform auch von geschlossenen Marktplätzen wie „Wer liefert was“, „DirectIndustry“ oder „Thomasnet“ ab. Bei ihnen kann man nur Lieferanten finden, die sich proaktiv registriert haben - und zahlen. Inzwischen können Suchende auf der Software-Plattform der Siegener mehr als 25 Millionen Unternehmen mit 250 Millionen Produkten und Dienstleistungen sowie 150.000 Technologien abrufen. Durchschnittlich über 100.000 Anfragen fallen am Tag an, gibt es rund 90.000 aktive Nutzer. Für Chris Hill ist das schon eine „stattliche Zahl“, wenn man bedenkt, dass ensun im B2B-Segment vertreten ist. Aktuell liegt der Schwerpunkt der Anfragen auf digitale Technologien, Nachhaltigkeit, neue Werkstoffe und Materialien. Doch die Bandbreite ist wesentlich größer, reicht von klassischem Industriebedarf, über Chemikalien, Maschinen bis hin zu Start-ups, die sich für Partnerschaften oder Kooperationen anbieten.

Das kann aber erst der Anfang sein. Eine notwendige und jetzt eingeleitete Skalierung soll und muss später einmal Klick-Zahlen im hohen Millionenvolumen bringen. Bis dahin dauert es noch, ist der Auf- und Ausbau nach vier Jahren längst nicht abgeschlossen. Mehr noch: Die Gründer richten ihr Start-up neu aus. „Als wir gestartet sind, bauten wir einen Marktplatz, der stark auf das Technologie-Scouting fokussiert gewesen ist“, beschreibt Chris die Genese. „Der Kerngedanke war, dass viele, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen vor einer Transformation stehen und digitale Technologien benötigen, die ihnen weitgehend nicht bekannt sind.“ Das resultiere zwangsläufig in einer neuen Lieferantenbeziehung.

Von „Scout“ zu „Search“

So bauten Chris und Ben Hill in ihrer ersten Version tatsächlich noch ein Lizenzmodell mit registrierten Mitgliedern auf, die nach Lösungen für ihre Herausforderungen suchen. „Scout“ ist das erste Produkt gewesen, in dem Unternehmen gegen eine Jahresgebühr individuelle Anfragen stellen können. Proaktiv mussten dafür Entwicklungs- oder IT-Abteilungen oder Einkäufer in Unternehmen angesprochen werden, um die automatisierte Lieferantensuche zu abonnieren. Mehrere hundert Kunden nutzen dieses Angebot, das einen großen Teil des Umsatzes im hohen sechsstelligen Bereich jährlich generiert. Unter ihnen befinden sich SAP, Rewe, Krombacher, Knorr-Bremse, AVL, ifm, Rosenbauer, Südzucker oder Abus.

Bis vor eineinhalb Jahren ist „Scout“ das Wesen vom ensun gewesen. Doch gibt es einen Sinneswandel. „Wir sind an einen Wendepunkt gekommen“, sagt Chris. Er und sein Bruder hielten nach den Erfahrungen der ersten beiden Jahre eine Korrektur der Geschäftsstrategie für angebracht. Das nicht-öffentlich zugängliche Lizenzmodell hinter einer Paywall sei eine Hürde gewesen, um das tatsächliche Potential auszuschöpfen. 

Sie waren sich schnell einig: „Wir brauchen ein google-ähnliches Modell; einen Anwendungsfall, der eine Suchanfrage à la Google in die spezifischen Anforderungen der Lieferantensuche à la ensun konvertiert, so dass wir am Ende mit Werbung von Lieferanten Geld verdienen, die auf der Website besser gefunden werden wollen.“ Die Gründer haben 2022 die Entscheidung getroffen, ihr Produkt nicht mehr komplett zu lizenzieren, sondern Teilbereiche öffentlich zugänglich zu machen. „Search“ war geboren und ist seit einem dreiviertel Jahr nutzbar. Nebenher läuft „Scout“ weiter und bekommt auch heute noch neue Kunden, generiert damit wertvolle Einnahmen für die Weiterentwicklung von ensun.

„Der richtige Weg, den Markt zu erobern"

„Transformation“ - so beschreiben die Hill-Brüder aktuell den Status des Start-ups. „Wir sind an den Punkt gekommen, unser Modell skalieren zu müssen“, sagt Chris. „Das ist der richtige Weg, wie wir den Markt erobern können.“ Auch wenn die Haupteinnahmen noch aus dem Lizenzgeschäft kommen, will ensun langfristig seine Umsätze durch Werbung der Lieferanten generieren. „Schon jetzt sehen wir anhand der Klick-Zahlen, wie groß das Potential ist“, sagt Ben. Zu beobachten sei ein signifikanter Anstieg im Aufkommen von Online-Anzeigen.

Agilität, Flexibilität, Pragmatismus, Risikobereitschaft. Chris und Ben Hill sind Start-up-Gründer wie aus dem Bilderbuch. Sie mussten lernen, dass die Akquisition von Lizenzkunden mit Registrierungen aufwendig und mit extremen Vertriebsaufwand verbunden ist, dass die Bereitschaft einer Investition in „Scout“ begrenzt und die Skalierbarkeit limitiert ist. Mit einer offenen Suchplattform steigen Reichweite und Zugriffe enorm, selbst wenn es anfangs in der Transformation Umsatz kostet. Chris formuliert ein äußerst anspruchsvolles Ziel: „Der Prozess muss so optimiert werden, dass ein Unternehmen mit der ersten Suchanfrage eine Entscheidung treffen kann."

Vorbild sind dabei Plattformen wie idealo oder Trivago, die durch Klicks verdienen. Sie sind wie ensun auf spezielle Anwendungen wie Preisvergleiche für Konsumenten oder Touristik fokussiert und arbeiten mit öffentlich zugänglichen Daten aus dem Netz. Die ensun-Gründer schauen sich da einiges ab.

Nicht die Start-up-Klassiker

Klassische Start-up-Gründer sind die Brüder nicht. Die Suche nach der Geschäftsidee war durch den Drang getrieben, eigenständig etwas aufzubauen. Chris Hill hat an der Universität Siegen Wirtschaftswissenschaften (Bachelor of Business Administration)  mit Schwerpunkt Entrepreneurship und SME-Management  (SME, Small and Medium Enterises) bis 2023 - also schon im Aufbau von ensun - studiert. Bruder Benjamin machte 2022 seinen Bachelor in Wirtschaftsinformatik ebenfalls an der Uni Siegen. „Lass uns einfach mal probieren“, fasst Ben die Stimmung während des Studiums damals zusammen. Nichts von Vertrieb, Marketing oder vom Umgang mit Kunden wissen, keine Kenntnisse haben, wie Entwicklungsprozesse funktionieren. Alles zwangsläufig angeeignet durch „Learning by Doing“ mit viel gezahlten Lehrgeld.

Was jedoch andererseits von Vorteil gewesen ist: „Wir sind nie in der Komfortzone gewesen, als Arbeitnehmer erst einmal Geld zu verdienen und sich in Sicherheit zu wiegen“, erinnert sich Chris. „Dementsprechend hatten wir auch nie etwas aufgeben müssen, das hat den Schritt in die Selbstständigkeit einfacher gemacht.“ Schon in Schulzeiten haben sie über Business-Pläne gebrütet, loderte das Interesse, selbst Dinge in die Hand zu nehmen; so unterschiedlich die Brüder auch sind.

Chris der Unruhige, Ben der Strukturierte

Chris, der unruhige, dynamische Typ, der viel redet, spontan ist und den direkten Kontakt zu den Menschen bevorzugt, statt kompliziert Emails zu schreiben, sie notfalls hartnäckig anruft, um sie endlich am Telefon zu haben. Passend dazu kümmert er sich um Marketing und Vertrieb, hat in endlosen Gesprächen und trotz anfänglicher Naivität mit vielen Worten und viel Geduld die Kunden erfolgreich herangeschafft. Eine seiner Stärken ist die Improvisation, mit der auch mal peinliche Anfängerschnitzer in Kundengesprächen übertüncht wurden. „Für Entwicklung und Finanzen, bin ich viel zu hippelig. Die Aufgaben übernimmt Ben, der ruhige, sortierte und organisierte Typ, der die internen Prozesse managt. „Ich kenne niemanden, der so strukturiert arbeiten kann“, sagt Chris über ihn und lacht. Ben hat kein Problem mit der trockenen Materie.

Gute Schule im Elternhaus

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, wie die beiden in einem Büro sitzen. Der eine Schreibtisch versinkt im Chaos, der gegenüberliegende ist aufgeräumt. Ben trägt während der Arbeit Kopfhörer, zieht sich fünf oder sechs Stunden Musik rein, während sein Gegenüber - sollte er da sein - nur redet, ob mit sich selbst, mit Ben oder mit Kunden.

Dass die beiden diesen Weg gegangen sind, hängt viel mit den Eltern zusammen. Die haben vieles in Sachen Gründer-Dasein und Entreprenuership vorgelebt. „Wir haben zu Hause unbewusst eine gute Schule gehabt, haben viel vom Mindset des Vaters sowie dessen Mut zum Risiko mitbekommen“, sagt Ben. „Es ist ein Riesenprivileg, so jemanden als leidenschaftlichen Unternehmer mit Rat und Tat zwei Türen weiter sitzen zu haben.“

                                                  Martin Hill

Dieser leidenschaftliche Unternehmer ist Prof. Dr. Martin Hill, der mit der Unternehmensberatungs- und Beteiligungsgesellschaft Hill GmbH ein Family Office betreibt. Er hat selbst in den neunziger Jahren in Siegen ein Unternehmen gegründet, das er 2010 an SAP verkauft hatte, wo er dann als Vice President und General Manager für Digital Supply-Chain-Lösungen beschäftigt gewesen ist. Er ist Teilhaber von ensun, wie er ebenso andere Beteiligungen hält, etwa an dem Siegener Quantencomputer-Entwickler eleqtron (siehe auch: „eleqtron: Mit Quanten gegen IBM und Google“ vom 27. März 2024, aktualisierte Version https://www.passion4tech.de/blog/accure-auf-daten-schatzsuche-im-akku-1). Zum Portfolio gehören zudem Engagements aus den Bereichen Augmented Reality oder digitale Gesundheitsanwendungen.

Martin Hill ist in der Region bestens vernetzt und hat eine Honorarprofessur für Entrepreneurship an der Universität Siegen. Natürlich hat dieses weitreichende Netzwerk über die Universität Siegen und die Region hinaus dem Aufbau von ensun geholfen. Auch was die Finanzierung angeht. Einen siebenstelligen Betrag an Venture Capital haben die Gründer-Brüder bislang hereingeholt. Neben dem Vater sind auch Softwareentwickler Werkdigital aus Olpe sowie der RWTÜV Investoren und Mitgesellschafter.

Der Vater habe seinen Söhnen eingebläut, dass Scheitern einfach zum Unternehmertum gehöre, dass es nicht schlimm sei, wenn etwas einmal nicht funktioniere oder Fehler gemacht werden würden, sagt Schwester Sawa Hill, 34 Jahre, die sich neben ihrer Arbeit als Redakteurin im Burda-Verlag auch ein bisschen um den Auftritt von ensun in der Öffentlichkeit kümmert. So etwas, sage ihr Vater immer wieder, dürfe man nicht verteufeln. Im Gegenteil: Man sammele neue Erfahrungen. „Wenn man in so einem Spirit des Ausprobierens aufwächst, ermutigt das die Menschen doch noch mehr, ins Risiko zu gehen; dieses Feuer loderte schon seit jeher zu Hause“, sagt die Schwester mit ihrem etwas distanzierteren Blick als Angestellte. Das alles leben auch ihre Brüder - und stellen diesen Mindset mit der eingeleiteten Transformation der Lieferanten-Suchplattform unter Beweis.

https://ensun.io/de

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