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13 Dec
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Wie im Supermarkt soll in Selbstbedienung Software zur Datenanalyse runtergeladen werden und - schwuppdiwupp - lassen sich aus enormen Datenmengen automatisiert Prognosen erstellen, um Geschäftsrozesse zu optimieren. Das ist der Plan von Westfalia DataLab. Doch für die „Demokratisierung von Data Science“ muss das Software-Start-Up Umwege machen; zu komplex sind noch die Herausforderungen. Nun gibt es erst einmal eine betreute KI-Plattform im Abo und Unternehmensberatung in kniffligen Angelegenheiten der Künstlichen Intelligenz. Namhafte Investoren unterstützen das Projekt - darunter Logistiker Fiege, Entsorger Remondis und Wirtschaftsprüfer PWC.

13. Dezember 2021 - Von Rüdiger Köhn, München

In Stuttgart leert Remondis die Altglascontainer nicht von Straßenzug zu Straßenzug. Der Entsorgungskonzern fährt nur die Container an, die voll sind. Und wenn dann auch einmal einer dabei ist, der zu 60 Prozent gefüllt, aber ohnehin in zwei Tagen voll ist, wird der gleich mitgenommen. Deswegen fahren die weißen Lastwagen mit dem roten Logo längst nicht chaotisch kreuz und quer durch die Stadt. Im Gegenteil: Intelligente Software analysiert alle verfügbaren Daten, inklusive die der optischen Sensoren im Container,  und erstellt mittels Prognosen eine optimierte Route. Das spart nicht nur viel Zeit, sondern auch 15 bis 20 Prozent Kraftstoff.

Datenanalyse unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) setzt Vorwerk ein, wenn es darum geht, den vernetzten Thermomix bei Software-Updates zu überwachen und das Qualitätsmanagement zu unterstützen. Der Textil-Einzelhändler Peek & Cloppenburg ermittelt über Algorithmen die Prognosen für Absatz und Wareneingang im Online-Geschäft wie im stationären Handel. So wird die Basis für effektive Dispositonen im Einkauf oder in der Personalplanung geschaffen. Der Einsatzplan für die Mitarbeiter in den Logistik- und Verpackungszentren kann mit einem Vorlauf von nur ein bis zwei Wochen wesentlich flexibler aufgestellt werden. Daraus ergibt sich ein Sparpotential von 10 bis 25 Prozent allein in den Personalkosten.

                                   Philip Vospeter                                                 Foto Westphalia DataLab

 „Mit einer Genauigkeit von 95 Prozent lässt sich voraussagen, wieviele Waren wo verpackt und versendet werden müssen“, sagt Philip Vospeter, Vorstandsvorsitzeder von Westphalia DataLab (WDL) in Münster. Remondis, Vorwerk und P&C sind Kunden des 2017 gegründeten Unternehmens, das sich die „Demokratisierung von Data Science“, wie Vospeter sagt, auf die Fahnen geschrieben hat; nämlich den Einsatz von KI in der Gechäftswelt voranzutreiben - vorrangig in kleinen und mittelständschen Unternehmen, die großen Konzernen deutlich hinterherhinken.

Ungewöhnliche Gründergeschichte

WDL hält eine eher ungewöhnliche Gründergeschichte parat. Philip Vospeter, 45 Jahre, ist kein Gründer. Erst seit zwei Jahren ist der Manager und IT-Spezalist vom Landmaschinenhersteller Claas kommend nach Münster gezogen. „Sicherlich ist es eine Besonderheit, dass ich Nicht-Gründer bin und der Gründer nur Gesellschafter und nicht im opertaiven Geschäft tätig ist“, schmunzelt er. Es kommt auch eher selten vor, dass ein Professor nicht im Elfenbeinturm sitzt, sondern ziemlich geerdet seine Visionen angepackt hat: Reiner Kurzhals, Professor und Hochschullehrer der Münster School of Business der FH Münster, gilt als eine Koryphäe im Bereich Data Science, Data Analytics und Statistik. Er hat sich schon in den neunziger Jahren bei der Unternehmensberatung Roland Berger mit Analysen riesiger Datenmengen hervorgetan, etwa in der Pharmaindustrie.

Reiner Kurzhals

2010 wagte sich Kurzhals erstmals mit 4tree in die Gründerszene - eine Analyse-Plattform für Daten im Einzelhandel, die er 2015 an die Unternehmenberatung McKinsey verkaufte. Zwei Jahre später setzte er die Idee von Westphalia Datalab um. Datenautomatisierung ist ein großer Hebel, um die Effizienz in Unternehmen deutlich zu heben und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Haken: Es gibt nur wenig Datenexperten im Mittelstand. Data Scientist gehen zu Konzernen in die großen Städte, nicht zu weniger namhaften, kleinen Betrieben und erst recht nicht aufs Land. Und will tatsächlich einmal eine kleine Firma KI-basierte Software anwenden, gibt es keine Fachleute; der Markt ist leergefegt. 

Warum also nicht einen „KI-Supermarkt“ für eine breitere Anwendergruppe aufbauen, dachte sich Kurzhals. Im Angebot: Software-Plattformen mit Künstlicher Intelligenz, um Daten-Tsunamis zu bewältigen und zu verwerten. „Damit hat auch ein kleiner Mittelständler oder ein Onlineschop die Möglichkeit, sich über KI erstellte Absatz-Forecasts zu behaupten und den Herausforderungen im internationalen Wettbewerb gerecht zu werden“, sagt Vospeter, „weg von Bauchgefühl und Excel-Tabellen.“

Ein schöner Traum

Doch der hehre Anspruch erfüllte sich bislang nicht, einfach in Selbstbedienung eine KI-Software heruntezurladen. Kurzshals träumte gar von einem Massenprodukt, das zigtausende Kunden im SB-Laden einkaufen. Die Zeit dafür ist nicht reif. „Der Self-Service-Gedanke kann noch nicht funktionieren, weil die Anwendungen zu kompliziert und erklärungsbedürftig sind“, sagt Vospeter. Und Investitionen fielen um so schwerer, je kleiner ein Betrieb und je ferner die Welt der Algorithmen und Datananalyse ist.

                                   KI als Schlüssel für effektive Lagerhaltung

Der Betriebswirt Vospeter kam im September 2019 als angestellter Manager zu WDL und wurde Anfang dieses Jahres Vorstandsvorsitzender. Er arbeitete mehr als sieben Jahre bei Claas als IT-Spezialist und entwickelte die Digitalstrategie für den Hersteller von Mähdreschern und Traktoren. Schon zu Zeiten des Studiums an der Universität Bayreuth engagierte er sich in der Unternehmensberatung, lebte sich in die SAP-Welt ein, war tätig bei der zu Porsche gehörenden IT- und Managementberatung MHP und bei dem von der japanischen NTT übernommenen itelligence (heute NTT Data), einem Berater für mittelständische Unternehmen für SAP-Architekturen.

WDL ist heute Softwareentwickler und Unternehmensberater zugleich. Zum einen bietet es im Abo - nämlich als „Software as a Service“ (SaaS) - die Nutzung einer KI-Plattform an. Ohne große Vorkenntnisse kann Data Science in bestehende Strukturen implementiert werden, die Datenmengen im Unternehmen aufbereiten; seien es E-Mails, Chats, Telefonate von Kunden, deren Kauf- und Nutzungsverhalten bis hin zu Informationen über Lagerbestände, Lieferanten- oder Termintreue. Zusammen mit externen Daten wie Wetter- und Verkehrslage oder Störungen in der Lieferkette durch äußere Einflüsse ermittelt KI zum Beispiel Prognosen über Wareneingänge und Absatz.

          Fiege als Investor und als Kunde ...                                                                    Foto Fiege

Wobei: So ganz ohne Vorkenntnisse ist das WDL-Produkt dann doch nicht zu handhaben. Eine Schulung von fünf bis zehn Tagen müssen die Kunden schon über sich ergehen lassen, damit das Angebot richtig genutzt werden kann. Statt SB-Laden ist WDL mehr ein Service-Shop. Denn zum anderen nutzen die Münsteraner ihre Expertise auch, um einzelne Firmen zu beraten und spezifische KI-Konzepte zu erarbeiten, die von der Idee bis zur Integration in die IT-Infrastruktur und die Geschäftsprozesse reichen. Der Mix hat den Charme, dass das Start-Up die einträglichen Einnahmen aus der Unternehmensberatung für die Weiterentwicklung seiner Software-Produkte verwendet.

Vospeter sieht viel Potential im variierten Geschäftsmodell: „Viele Unternehmen besitzen immer noch keine Digitalstrategie, geschweige denn eine Datenstrategie.“ Derzeit betreut WDL mehr als 60 Kunden, viele von ihnen im gehobenen Mittelstand mit Milliardenumsätzen: neben Remondis, Vorwerk, P&C auch Fielmann, Fiege, Westfalen AG oder Mann + Hummel. Zu ihnen gehören ebenso ganz Große wie Edeka. Dabei kann man durchaus im Kleinen beginnen, in Bereichen wir Vertrieb und Marketing oder im Lieferketten-Management. Schon schnell können durch den Einsatz von Algorithmen sichtbare Erfolge erzielt werden. „Es muss ja nicht gleich die Champions League der KI sein“, lacht Vospeter und meint „predictive maintainance“, die selbst die größten Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen stellt und mit dem die KI-Branche noch am Anfang steht.

                         ... wie auch Remondis                                                      Foto Remondis

Die Vorhersage über die Instandhaltung von Maschinen und Produktionssystemen ist eines der kompliziertesten Fälle im Bereich intelligent-vernetzter Prozesse. Um eine störungsfreie Fertigung in der Industrie zu ermöglichen, müssen Anlagen tonnenweise mit Sensoren ausgestattet, vernetzt und von der Ferne aus gesteuert werden. Erst dann sind über Prognosen notwendige Reparaturen oder Wartungsarbeiten oder gar drohende Ausfälle zu beherrschen. Bis derartige Systeme tatsächlich eimal homogenisiert sind und reibungslos arbeiten, kann es nach Meinung von Vospeter noch fünf bis zehn Jahre dauern.

Neben der Produktion fokussiert WDL vor allem auf die Welt der Logistik und des Handels, wo Margen gering sind und jeder kleine Schritt zu mehr Effizienz große Effekte zeigt. So ist das Familienunternehmen Fiege aus Greven als Anbieter von Logistiklösungen zum Seed-Investor geworden, war Westphalia DataLab das erste Investment im aufgelegten Venture-Capital-Fonds der Familie. Die zahlreichen Vortäge von Reiner Kurzhals über die realen Anwendungsmöglichkeiten von KI erweckten Aufmerksamkeit, auch bei Remondis.

Im WDL-Beirat: Fiege-CEO Felix Fiege (l.) und Remondis-Vorstand Thomas Conzendorf 

Fiege war zurerst am Zug, ist heute mit einem Anteil von 40 Prozent größter Anteilseigner. Remondis gehörte neben Fiege zu den ersten Kunden, stieg erst im Juli vergangenes Jahr mit rund 8 Prozent ein. Reiner Kurzhals hält etwa 30 Prozent. Im Juni dieses Jahres hat sich als vermeintlicher Exot die Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC) mit 20 Prozent beteiligt. Die Finanzierungsrunde brachte WDL 4 Millionen Euro ein. Damit, sagt Vospeter, würde WDL mit seinen heute 65 Mitarbeitern bis 2023 durchfinanziert sein. Ihm geht es in der nun hochlaufenden Skalierung des Geschäftsmodells vorrangig um den Ausbau von Marketing und Vertrieb mit dem Anheuern von entsprechenden Experten, weniger um die Produktentwicklung.

Wie groß das Potental von Data Science ist, zeigt der Einstieg von PwC. Der Wirtschaftsprüfer und Berater sieht das Engagement nicht als renditestarkes Investment, sondern als Ansatz für eigene KI-Modelle etwa in der Steuerprüfung oder bei der Betreuung von Akquisitionen (Mergers & Acquisition, M&A). Ein Team von PwC arbeitet konkret an derartigen Projekten. Vorstellbar ist ebenso, das Due-Dilligence-Prozesse - die genaue Prüfung eines zu erwerbenden Übernahmekandidaten - automatisiert werden können.

SaaS, Beratung und nun auch Company Builder

Es gibt noch mehr Geschäftsmodelle, die durch Künstliche Intelligenz angeschoben werden - in der Medizin und im Gesundheitswesen. Nebenher hat Gründer Reiner Kurzhals Kontakte zum St. Franziskus-Hospital in Münster gehabt. So entwickelte das Augenzentrum in Zusammenarbeit mit WDL als federführender Partner und mit dem Pharmakonzern Norvatis das Projekt DeepEye, mit dem Erblindungen - die alterbedingten Makula-Degeneration (AMD) - dank des Einsatzes von KI in der Bilderkennung bekämpft werden kann. Die Fortschritte sind so groß, dass WDL im Oktober die Aktivitäten in die deepeye Medical GmbH ausgegründet und in München angesiedelt hat.

Dieser Schritt ist erfolgt, weil das Metier der Medtechs nicht zum Kerngeschäft der Westfalen gehört, auch wenn Mitarbeiter gerade Entwicklungen im Bereich der Kardiologie und der Hirnforschung vorantreiben, die in weiteren Ausgründungen münden könnten. „Das“, sagt Philip Vospeter, „dauert sicherlich noch mindestens ein Jahr, aber mit deepeye haben wir eine schöne Blaupause erstellt.“ So ist Westphalia DataLab en passant dabei, ein drittes Geshäfstfeld aufzubauen; das des Company Builders. (Demnächst bei yung & wlde: „deepeye - KI schützt vor Erblinden“)

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