Christian Deilmann und Johannes Schwarz gründeten Tado, um mit smarten Thermostaten das Klima zu verbessern. Das Münchner Start-Up, derzeit auf dem Weg zum Unicorn, ist ein Beispiel für Wandlungsfähigkeit. Zehn Jahre nach Gründung dreht es nun das ganz große Rad. Die Regler an Heizkörpern in der Wohnung sind nur noch Beiwerk. Heute steht Klimamanagement auf einer intelligenten Plattform in Europa im Fokus. Und es geht weiter: Neues Ziel ist der Aufbau "atmender Energienetze" als Puffer in der extrem schwankenden Stromversorgung aus Wind und Solar.
14. Juli 2021
In der Bostoner Schwüle dröhnte die Klimaanlage auf Hochtouren, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Die Wohngemeinschaft bestand nicht nur aus gut verdienenden und maximal auf Komfort ausgerichteten Amerikanern, sondern auch aus weniger liquiden Studenten wie Christian Deilmann. Die Stromrechnung von 1000 Dollar im Monat schmerzte schon genug. Noch mehr ärgerte er sich aber über den sorglosen Umgang mit Strom. Ausgerechnet Deilmann musste das erleben, der schon zu Schulzeiten Referate über erneuerbare Energien und Umweltschutz hielt.
Christian Deilmann Fotos Tado
Während des zweijährigen Studiums am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte sich so in der künstlich runtergekühlten WG der Drang, Tado zu gründen. Deilmanns Freund Johannes Schwarz empfand ähnlich. Er studierte zur selben Zeit an der Virginia Tech in den USA. Auch er wunderte sich über die Energieverschwendung der Amerikaner.
So gründeten sie vor genau zehn Jahren mit 29 Jahren in München ihr Start-up, das intelligente Heizungs- und Klimasteuerungen sowie smarte Thermostate entwickelt hat. Heute ist es weitaus mehr, nämlich Anbieter einer herstellerübergreifenden, umfassenden Energie-Plattform für Gebäude.
Tado ist ein Beispiel für ein agiles, wandlungsfähiges Unternehmen. Deilmann spricht nicht mehr von smarten Thermostaten, sondern von intelligenten Klimamanagementsystemen. Im Vorstand ist er für Produkte zuständig, den Vorstandsvorsitz gab er 2017 an den früheren Tomorrow-Focus-Chef Toon Bouten ab. Mit ihm und Emanuel Eibach als Finanzchef zog ein professionelles Management ein, mit dem das Unternehmen in neue Dimensionen wachsen soll. Kumpel Schwarz ist Technologievorstand.
"Wir haben ähnliche Lebensläufe, ähnliche Einstellungen, und wir ergänzen uns ideal", sagt Deilmann. Er ist Maschinenbauingenieur mit Schwerpunkt Energietechnik der TU München, Schwarz studierte zwischen 2002 und 2007 in derselben Zeit dort Informatik und Regelungstechnik, , ein „begnadeter Softwareentwickler“, wie Deilmann sagt.
Beide eint die Leidenschaft für das Unternehmertum. Die gab es schon vor Tado. Im Gründerzentrum UnternehmerTUM, einer von BMW-Erbin Susanne Klatten vorangetriebenen gemeinnützigen Organisation zur Förderung junger Unternehmer, lernten sie sich 2002 in Seminaren kennen. Kurze Zeit später schufen sie die Bellpepper Mobile AG. Aus einem Uni-Projekt entstand das Telekommunikations-Unternehmen, das sie später an den Schweizer Mobilfunkbetreiber Swiss Mobiles verkauften. "Wir haben so unsere Begeisterung für das Unternehmertum und Entrepreneurship gefunden.
An der MIT setzte sich Deilmann mit Windkraftanlagen und Energieflüssen auseinander, wo er den zweiten Master absolvierte. Ihn fesselte die Erkenntnis, dass Heizung und Klimatechnik in Gebäuden die größten Energieverbraucher sind, weit vor der Industrie und dem Verkehr. Allein in Deutschland entfallen heute auf sie 35 Prozent des Energieverbrauchs, verursachen 30 Prozent des CO2-Ausstoßes. "Man muss an die Gebäude ran", definiert er die Mission. Denn da gibt es viel zu tun. Allenthalben stehen veraltete Öl- und Gasheizungen in den Kellern, die zudem in der Regel von kleinen und mittelständischen Handwerksbetrieben gewartet werden.
"Wir müssen die Anlagen ins Internet bringen", dachte sich Deilmann schon damals. Intelligent angesteuert werden müssten sie, um Effizienzen zu heben. Aktuelle Wetterlagen und -prognosen, Informationen über Räume mit offenen oder geschlossenen Fenstern, die Anwesenheit der Bewohner fließen auf eine Plattform, die die Daten intelligent verwertet.
Das Konzept reifte schon 2008. Aber es gab ein Problem: "Die Welt war noch nicht so weit", sagt Gründer Deilmann. Die Digitalisierung der Energiewelt musste noch warten. Ihm schwebte ein Internetmodul für 100 Euro vor, dessen Anschaffung sich dank der Energieersparnis schon nach einem Jahr rechnen sollte. Aber in einer Zeit, als nur eine Minderheit über Smartphones mit Apps verfügte oder ein Internetanschluss zu Hause keine Selbstverständlichkeit war?
Ursprung: Smart Thermostate
Die damals noch verhinderten Entrepreneure nahmen so 2009 ihre Pläne im Gepäck zurück nach Deutschland und begannen unterschiedliche Karrieren. Schwarz startete als europäischer Patentanwalt, Deilmann stieg bei dem Münchner Risikokapitalgeber Target Partners ein. Dort hat er rund um die Uhr neue Geschäftsideen durchgearbeitet, Schwarz Patentanträge. "Warum Ideen anderer Leute wälzen, wenn wir unsere eigenen haben."
In den zweieinhalb Jahren ihrer Arbeit haben sie viel gelernt, was sie später einbringen konnten - und wenn es um den Umgang mit potentiellen Investoren ging. Beide juckte es schon die ganze Zeit. Gute Jobs hin, auskömmlicher Verdienst her, die Erinnerungen an die "spannende und colle Zeit" mit Bellpepper ließen sie nicht los. Zunächst tüftelten sie zehn Monate nebenher abends und an Wochenenden - auf dem Sofa. "Ich habe die Elektronik gelötet, Johannes die Software geschrieben."
Herausgekommen ist als Prototyp ein Kasten - "schwarz, groß, klobig" -, der eine Heizungsanlage im Keller ansteuern konnte. Beide haben ihren Beruf auf. Sie gründeten Tado im Jahr 2011. Ein Jahr später montierten sie die dicken Boxen bei Testkunden, 2013 begann der reale Verkauf. Unverhofft kam Dynamik in das Gründergeschehen,. Denn Deilmanns früherer Arbeitgeber Target Partners meldete Interesse an und beteiligte sich mit Venture Capital. Dadurch konnten die beiden Jungunternehmer ihre Pläne schneller umsetzen.
So folgte bereits 2014 der Eintritt in Großbritannien. Das Jahr darauf entschlossen sie sich, aus dem Keller zu steigen, wie Deilmann es formuliert, und die Räume mit Thermostaten auszustatten. Mit digitalen Steuergeräten für Klimaregelungen, Heizkörper und Fußbodenheizung eroberten sie Wohnungen und Büros. Das per Algorithmus ferngesteuerte Heizungs- und Wartungsgeschäft wurde 2019 eingeführt.
Der Tado-Vorstand: Emanuel Eibach (Finanzen), Christian Deilmann (Produkte), Johannes Schwarz (Tehnologie) und Vorstandschef Toon Bouten (von links)
Der Datensauger war nun eingeschaltet, und ein riesiges Netzwerk entstand. Heute sind mehr als eine Million Steuergeräte verkauft, somit Heizungs- und Klimaanlagen auch aus der Ferne regelbar. Der große Mehrwert in dieser Plattform besteht darin, dass sie mit den Systemen von 900 Herstellern mit 16 000 Anlagen in Europa kompatibel ist. Deilmann rechnet vor: Die Leistung der installierten Geräte entspreche 4,5 Gigawatt, fünf große Kohlekraftwerke oder etwa 4500 Windräder; bis Ende 2020 hätten Nutzer 470,000 Tonnen Kohlendioxid eingespart – so viel wie eine Million Flüge zwischen New York und München.
"Einige Sachen waren geplant", sagt der heute 39 Jahre alte Deilmann und meint damit das Angebot der smarten Thermostate, die es auch im Handel gibt. "Viele Dinge haben sich erst im Laufe der Zeit entwickelt." Die Netzwerke zum Beispiel. Die gewonnenen Daten haben für Tado einen sehr viel höheren Wert generiert - und eine neue Stoßrichtung vorgegeben. Schließlich wurde das junge Unternehmen von Nachahmern wie großen Anbietern im Installations- und Endkundenmarkt für smarte Geräte in die Zange genommen. Die Abwehr- fügte sich mit einer neuen Zukunftsstrategie zusammen. "Das Produktgeschäft ist Beiwerk geworden, aber es war für den Start elementar", lautet die Devise heute. "Ohne das hätten wir die ersten sechs Jahre jedoch gar nicht überstehen können."
Neben Heizungsdienstleistern gehören inzwischen elf der zwanzig größten Energieversorger in Europa zu den Kunden, etwa Eon oder Total aus Frankreich. "Wir helfen ihnen, vom Anbieter eines anonymen, austauschbaren Energierohstoffes zu Unternehmen zu werden, welche umfassende Energiedienstleistungen anbieten." Längst haben die Konzerne erkannt: Überleben können sie nur, wenn sie nicht einfach nur Strom durch die Leitung jagen, sondern sich auf vielschichtige Produkte sowie Services ausrichten - vom sparsamen Umgang mit Energie bis hin zum effektiven Laden von Elektroautos.Tado hat 2018 angefangen, dieses Modell in Europa auszurollen.
Nun kommt die Immobilienbranche hinzu. Die deutsche Noventic Group ist gerade erst eingestiegen und hat sich neben bestehenden Investoren an einer neuen Finanzierungsrunde über 38 Millionen Euro beteiligt. Das ist fast ein Drittel der bisher insgesamt eingesammelten 124 Millionen Euro. Eine Folge: "Wir gehen in Richtung Unicorn", sagt Deilmann. Das sind Neugründungen, die nach den Finanzierungen der Investoren mit mehr als eine Milliarde Dollar bewertet werden. Noch wichtiger aber ist: Die europaweit agierende Noventic wird zum Türöffner für eine wichtigen Markt, den Deilmann schon in der kühl temperierten WG in Boston im Hinterkopf hatte: Der Investor stattet Immobilen mit Geräten und Messtechnik aus, betreibt digitale Kommunikationsplattformen und Datenmanagement sowie die wohnungswirtschaftliche Verwaltung in mehr als sechs Millionen Wohnungen.
Einer neue Herausforderung nehmen sich Deilmann und Schwarz nun mit den "atmenden Energienetzen" an, die wegen des wachsenden Gewichts von extrem schwankender Wind- und Solarkraft mehr denn je nötig sind. Schließlich wird der Strombedarf allein schon wegen der hochlaufenden Elektromobilität neue Anforderungen stellen. Über Pufferspeicher und thermische Trägheit können Energienetze stabilisiert werden. "Mit entsprechenden intelligenten Steuersystemen beginnen wir jetzt die Pilotphase", kündigt Deilmann an. So werde eine hohe Flexibilität der Systeme erreicht, um eine stabile Netzversorgung zu ermöglichen. "Da wir eine gigantische Menge von Gebäuden zentral ansteuern, haben wir eigentlich schon einen sehr großen virtuellen Puffer, auf den wir zugreifen können."
Damit mag auch eine Antwort auf die Bedrohung durch Internetgiganten wie Google oder Amazon gefunden sein. Die dringen mit ihren Netzangeboten zu Hause in die Sphären von Tado ein. Google Nest ist ein großer Konkurrent, der ebenso digital vernetzte Thermostate oder andere Hausgeräte - inklusive intelligenter Kameras - mit zugehöriger Software anbietet, in erster Linie aber auf Verbraucher abzielt. Mit dem Fokus auf die Stromnetzwerke, auf große Kunden wie Energieversorger oder Immobilienwirtschaft verfolgt Christian Deilmann eine andere Stoßrichtung und entschärft die Bedrohungslage. Er hat für Tado einen neuen Markt definiert: "Wir springen nun in die vernetzte, erneuerbare Energiewelt."