Kleinzukriegen ist Marc Funk nicht. 2015 gründete er den erfolgreichen Online-Supermarkt GetNow. Doch Funk wurde zum Opfer des von Interpol gesuchten Wirecard-Managers Jan Marsalek, der in sein Start-Up investierte. 2020 wurde GetNow nach dem Zusammenbruch des Dax-Unternehmens mit in die Insolvenz gerissen. Wenige Monate später gründete Funk den digitalen Marktplatz FrontNow, der Konsumgüter-Hersteller und stationäre Händler zusammenbringt. Mit Künstlicher Intelligenz wird ein treffsicheres Sortiment für Kunden zusammengestellt, um dem Laden um die Ecke die Zukunft zu sichern. Die dafür nötigen riesigen Datenmengen gibt der Konsument nur allzu gern preis.
21. Februar 2022 - Von Rüdiger Köhn, München
Marc Funk bedient sich der Sprache des Basketballs. „Pivot“ wird der oft angewendete Sternschritt genannt, mit dem sich ein Spieler um den Standfuß dreht, den Ball dribbelt und den Gegner ausstechen soll. Nichts anderes macht FrontNow. Im Zusammenspiel zwischen Herstellern von Konsumgütern und stationärem Händlern sucht das im Dezember 2020 gegründete Unternehmen aus Berlin quasi in Kreisbewegungen nach einem Weg, ein optimales, auf Bedürfnisse lokaler Käuferschichten zugeschnittenes Angebotssortiment zu finden. Es geht darum, das richtige Produkt im Regal zu platzieren. Keine einfache Aufgabe: Regalplatz ist knapp und hart umkämpft; und er ist verschwendet, wenn dort Ladenhüter stehen, die kein Umsatz bringen.
Marc Funk Fotos FrontNow
Ziel von FrontNow ist es, den Umsatz für Hersteller und Einzelhandel zu steigern, vor allem die Margen zu erhöhen - und dem Laden um die Ecke oder der Filiale eines Einzelhändlers in der Fußgängerzone Käufer zuzuspielen und so die Position des Präsenzhandels gegen die erdrückende Macht des Online-Geschäfts zu verteidigen. Marc Funk, der das Start-Up mit seinem Jugendfreund und „Ideengeber“ Bernhard Lihotzky sowie dem „Autodidakten“ Cedric May gegründet hat, bezeichnet das Geschäftsmodell als eine intelligente Suchmaschine. Will man Hersteller und Händler über einen digitalen Marktplatz zusammenbringen, gehe es nicht um eine simple Liste in alphabetischer Aufstellung. „Das Suchergebnis muss nach Relevanz sortiert werden“, sagt Funk. Das heißt: „Welches Produkt passt zu welchem Händler?“
Jeder Suchende erhält ein individuelles Ergebnis, bezogen auf Standort und auf Kaufmilieu. Im Präsenzhandel ist das nicht einfach und ganz anders als bei den Suchmaschinenanbietern, die online genau das machen: Bei Abfragen berücksüchtigen sie Online- und Kaufverhalten der Nutzer. Überlebenswichtig ist für einen Laden- oder Flilalbetreiber, das richtige Sortiment zu haben. Der Kunde kommt und greift in das Regal, wenn er tatsächlich das findet, was er sucht. „Das ist Relevanz.“ FrontNow ordnet auf Basis einer Fülle von Daten die Suchergebnisse und ermittelt so die Zielgruppen.
So können Verbraucherverhalten nicht nur über Stadtviertel, Straßenzüge oder -blöcke ermittelt werden. Das Konsumenten-Brennglas kann sich auch auf ein einzelnes Haus mit fünf Stockwerken und zehn Wohnungen richten. Aus Datenschutzgründen ist hingegen mit dem Messen bis vier Wohnparteien eines Hauses Schluss. Derzeit nutzt FrontNow sechs Datenlieferanten, vier weitere würden getestet. Wer die im einzelnen sind, sagt Funk nicht. Einen Namen nennt er dennoch: Prisma Analytics. Das Münchner Unternehmen hat eine KI-Technologie entwickelt, die in Echtzeit strukturierte sowie unstrukturierte Daten aus digitalen Quellen extrahieren, analysieren und schließlich in weitere Zusammenhänge einordnen kann. Das Datenmodell kann so realitätsnah Verhaltensweisen und Prozesse abbilden.
Bernhard Lihotzky, Cedric May, Marc Funk (v.l.)
FrontNow zahlt für diese anonymisierten Daten, um sein Modell unter Anwendung Künstlicher Intelligenz umzusetzen. Prisma wie auch das Berliner Start-Up kann man nun leicht als Datenkraken bezeichnen. Sie profitieren jedoch von der großen Auskunftsbereitschaft der Menschen und Verbraucher, die täglich eine Fülle von privaten Informationen in sozialen Netzwerken oder bei Internetgiganten preisgeben. Amazon und andere Online-Händler, Google, Bling, Instagram, TikTok oder Facebook durchleuchten seit Jahren ihre Nutzer und bieten so auf sie zugeschnittene „Informationen“ - also Werbung oder Produkte - an. Sie haben den Vorteil, dass sie alle relevanten Informationen sso problemlos online erhalten und auswerten können.
Für den stationären Handel hingegen ist das nicht so einfach. Für ihn muss eine Verbindung zwischen dem virtuellen und dem realen Kunden in der unmittelbaren Nachbarschaft erst hergestellt werden. Das macht FrontNow. Dazu benötigt man nicht nur die „Klassiker“ wie Geschlecht, Alter, Einkommen oder Mediennutzung. Es geht auch um Typisierung des Käufers, ist er ehrgeizig oder fährt er auf Bio ab. Welches Auto besitzt er. Zum Offline-Verhalten kommt die Online-Nutzung; welche Apps befinden sich auf dem Smartphone und wie oft werden sie geöffnet
Verkehrsnutzungsdaten werden ganz offiziell zur Verfügung gestellt; und wenn Prisma Analytics Daten der Weltbank auswertet, reichen tut das bei weitem nicht. „Denn wir wissen ja noch gar nicht, welche Produkte tatsächlich vom Konsumenten gekauft werden“, sagt Funk. Um die Zielgruppen zu definieren und auf möglichst kleine Einheiten hinunterzubrechen, müssen die vorliegenden Informationen mit Absatzzahlen der Händler und Hersteller sowie mit den Kassendaten einzelner Geschäfte verknüpft werden.
Ein Algorithmus analysiert Merkmale und weist sie Käufertypen zu. Grafik FrontNow
Am Ende ergibt sich ein umfassendes Bild. Der Berliner Stadtteil Neukölln hat sich durch die Gentrifizierung in den vergangenen Jahren vom sehr gemischten Stadtteil zum Viertel auch für Hipster gewandelt. Mit denen zogen ebenso die Kaufgewohnheiten um - und plötzlich waren im Edeka-Laden um die Ecke vegane Lebensmittel gefragt. Was bislang der Filialleiter aus dem Bauchgefühl heraus an veränderten Konsumgewohnheiten seiner Stammkundschaft erkennen konnte, funktioniert mit Milieu-Änderungen und Zugezogenen wie auch mit der zunehmenden Schnelllebigkeit nicht mehr. Erst recht wachsen die Herausforderungen mit neuen Angeboten, die in die Regale drängen. Rund 300 000 Produkteinführungen gibt es europaweit jedes Jahr. Was aber nützt die Neuheit, wenn sie nicht gekauft wird?
Das ist auch der Grund, warum vor allem Start-Ups wie Yamo, Oatsome, Rebel Meat, Everdrop oder Little Lunch das System von FrontNow nutzen, die nur mit begrenzten Mitteln spezielle Märkte mit ihren disruptiven Produkten erobern können. Generell jedoch steht das Schicksal des Präsenzhandels in den Städten auf dem Spiel. Der müsse aufpassen, dass ihm nicht das widerfahre, was mit dem Buchhandel geschehen sei, der durch die Online-Anbieter, allen voran durch Amazon, um seine Existenz kämpfe, warnt Funk. „Die Geschäfte haben ihre Attraktivität zu bewahren, damit Kunden die Anfahrt in die Stadt in Kauf nehmen, womöglich im Stau stecken, nach Parkplätzen suchen oder in Bus und U-Bahn stehen.“ Sie müssen etwas bieten. „Das ist nicht allein die Sortimentskompetenz“, sagt Funk. „Das ist Erlebnis und Haptik; wenn ich also etwas anfassen will, dann ist das etwas, das mir gefällt und passt und mich anspricht.“ Sobald das nicht funktioniere, gehe der Kunde online. „Und dann stirbt die Stadt.“
Insgesamt hat FrontNow derzeit rund 270 Herstellerkunden, zu denen eben nicht nur die jungen Wilden der Konsumgüterbranche gehören, sondern auch Etablierte wie Zentis oder Jägermeister oder Redbull. Das Modell der Berliner ist nicht für Standard- oder Massenware, nicht für das normale Waschmittel, das Bier, die Marmelade oder den einfachen Kräuterlikör gedacht. Denn mit einem breiten Angebot lassen sich die Vorteile dieses Systems gar nicht ausspielen. Es geht um besondere Produkte im Premiumsegment, mit denen sich hohe Margen erzielen lassen. „Je spitzer die Zielgruppe auf ein spezielles Angebot zugeschnitten ist, um so höher ist die Gewinnspanne“, sagt Funk. Deshalb bietet er Zentis nicht für die Marmelade die Daten an, sondern für ein Milchersatzprodukt auf Sonnenblumenkern-Basis. Für den Brausehersteller aus Salzburg geht es um das Tonic-Wasser, was Redbull eingeführt hat. Und der Braunschweiger Kräuterlikör-Hersteller nutzt die gezielte Markterschließung für das Edelprodukt „Jägermeister Manifest“. Der Trend in der Konsumgüter- und der Nahrungsmittelindustrie ist ungebrochen, die Produktlinien zu erweitern und Nischen zusetzen, um damit ein margenträchtiges Wachstum zu generieren. Und es macht - ganz nebenbei - den „Tante-Emma-Laden" für Hipster interessant.
Kaufverhaltensmuster in verschiedenen Filialen und Abgleich mit Absatzzahlen
FrontNow erschließt dies durch verschiedene Herangehensweisen, die es seinen Kunden über ein softwareorientiertes Abonnement SaaS (Software as a Service) anbietet. Über „Sales Intelligence“ wird der Produkthersteller angesprochen, dessen Außenvertrieb nach den ausgewerteten Daten dort hingeschickt, wo die Ware die höchsten Chancen hat, aus dem Regal eines Supermarktes, Getränkehändlers oder einer Drogerie in den Einkaufswagen gelegt zu werden. Das können mal dreißig, mal fünfzig oder mal zweihundert Adressen sein; je nachdem, wo sich parallele Muster im Kaufverhalten abbilden. Für den Handel heißt das SaaS-Modell „Retail Intelligence“. Die KI wertet die Daten für einzelne Filialen so aus, dass sie das richtige Sortiment auswählt - wie gesagt, in Bereichen der Nischenprodukte, nicht im Standardsortiment.
Dessen bedient sich ein nicht genannter Tankstellen-Konzern für seine Shops, aber auch einzelne Filialen von Edeka oder Rewe, die sich wegen der genossenschaftlichen Struktur nicht komplett über den Zentraleinkauf eindecken, sondern auch individuell disponieren können. Die „Discovery Plattform“ als drittes Element soll Lieferanten und Produzenten mit den Händlern verbinden. Der Kontakt zwischen Hunderten von Anbietern und zahlreichen Händlern ermöglicht die Vernetzung und den Ausbau der direkten Geschäftsbeziehungen, wenn es etwa darum geht, Produktneuheiten zu platzieren. Ein durchaus analoges Element ist dabei die Discovery Box: Ein durch KI zugeschnittenes Artikelsortiment wird einem Händler in einem Karton zugeschickt, das er testen und bei Erfolg dauerhaft in sein Angebot aufnehmen kann. Und haptisch wird es mit den ebenfalls angebotenen Marktaufstellern mit Werbedisplays, um im Geschäft die Resonanz von Angebote zu testen; ganz die klassische Marktforschung. Aber auch da geht es digital zu, werden Kundenfrequenz und Verweildauer vor dem Smart Display gemessen. Dabei ermittelt KI, in welchen Märkten Hersteller idealerweise solche Kampagnen mit Erfolgsaussichten fahren können.
FrontNow ist so etwas, wie ein Küchentisch- oder WG-Start-Up. Beim Kochen haben sich Marc Funk und Bernhard Lihotzky, beide 36 Jahre, und Cedric May, 32 Jahre, den Kopf über die eher trübe Zukunft des stationären Handels zerbrochen. Funk und Lihotzky kennen sich seit Schulzeiten und sind eng befreundet. Beide kommen aus München, sind aber vor mehr als zehn jähren nach Berlin gezogen. Funk hat an der European Business School Betriebswirtschaftslehre und Management studiert, Lihotzky an der TU München ebenfalls BWL. Den aus Duisburg zugezogenen May hat Marc Funk vor fünf Jahren kennengelernt. Beide gründeten während des Corona-Lockdowns eine Wohngemeinschaft. May hat sich als Autodidakt schon sehr früh mit Software und IT auseinandergesetzt. Er ist der Experte in Sachen KI und Datenbankprozesse.
Ganz analoge Smart Displays im Laden
Natürlich drehten sich viele Gespräche um Unternehmensgründungen. Marc Funk hat 2013 sein erstes Start-Up mit dem Versicherungsportal OnlineVersicherung.de gegründet und es schnell an die Wertgarantie-Gruppe verkauft. Mit dem Geld hat er 2015 den Online-Supermarkt GetNow aufgebaut, einem Blitzlieferdienst mit 20 000 Artikeln im Sortiment. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs, als das Geschäft blühte und das Unternehmen mit 150 Millionen Euro bewertet war, geriet GetNow und damit auch Marc Funk in den Sog des Wirecard-Skandals. Denn einer der Investoren war die IMS Capital Partners, hinter der Wirecard-Vorstand Jan Marsalek steckte. Der ist auf der Flucht, wird nach ihm per internationalen Haftbefehl von Interpol gefahndet und gilt als der Drahtzieher der vorgeworfenen Betrügereien, die den einst im Dax notierten Zahlungsdienstleister in den Ruin trieben. Die Vermögen wurden eingefroren, ging GetNow im Sommer 2020 in die Insolvenzmasse ein, aus der kurze Zeit später die Drogeriekette Rossmann das Start-Up übernahm. Auch Bernhard Lihotzky ging unter die Gründer und schuf mit Healthcube einen Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln, den er nach fünf Jahren an einen Finanzinvestor verkaufte.
Handelserfahrungen im positiven wie im negativen Sinne machten beide zur Genüge. In einem von zahlreichen Küchengesprächen kam Lihotzky die Idee, ob man Händler und Hersteller nicht zusammenbringen sollte. Er selbst machte schließlich hinlänglich Erfahrungen damit, wie schwierig es für ihn gewesen ist, Produkte in die Regale der Händler zu bekommen. Richtig gezündet jedoch hat es erst, als Funk der Gedanke kam, eine Vernetzung nach Relevanz auf Basis von Künstlicher Intelligenz vorzunehmen. Cedric May kam ins Spiel und steuerte seine technische Kompetenz bei. Er hatte schon ein eigenes Software-Unternehmen gegründet und war in leitenden IT-Funktionen bei Salesforce oder Coca Cola in Deutschland tätig.
Im Dezember 2020 - nur ein halbes Jahr nach dem Wirecard-Desaster - haben sie FrontNow gegründet und mit der Patentpool Innovation einen Investor für die Frühphase (Seed) gefunden. Noch im ersten Quartal dieses Jahres suchen sie eine Seed-Plus-Finanzierung über eine knappe halbe Million Euro. Das Modell soll auf Europa ausgerollt werden, sollen auch einmal die ganz Großen der Handelsbranche wie Carrefour aus Frankreich oder Sainsbury aus Großbritannien angesprochen werden. Schon jetzt steht fest, dass die „extrem wertschöpfende, aber auch explosive Konstellation“ mit Marc Funk als nicht zu bremsender Stratege, Bernie Lihotzky („der Perfektionist“) und Cedric May („der Emotionale“) nicht dauerhaft FrontNow betreiben werden. Bis zur Rente würden sie das wohl nicht machen, lacht Funk. Grob haben sie sich einmal einen Zeitrahmen von noch fünf Jahren gesteckt.